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Kinder des Monsuns

Kinder des Monsuns

Titel: Kinder des Monsuns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Jimenez
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konnte. Danach übte und übte Chaojun |254| in ihren freien Stunden bis zum Umfallen. Über ihrem Bett standen Partituren statt Gute-Nacht-Geschichten.
    Wenn die Yangs heute auf die letzten vier Jahre der Sparsamkeit zurückblicken, kommen sie zu dem Schluss, dass sich die Mühen gelohnt haben. Chaojun ist heute, mit erst neun Jahren, ein kleiner Star. Als ich sie im Frühjahr 2004 zum ersten Mal spielen höre, gehört sie zu den Zöglingen des Schanghaier »Kinderpalastes« in einem alten Herrenhaus aus der Kolonialzeit in der Yan’an-Straße in Schanghai, das Madame Sun Yat-sen, die Witwe des Nationalistenführers, 1953 in eine Schule umwandelte. Die Einrichtung, ursprünglich zur Erziehung armer Kinder gedacht, verwandelte sich mit der Zeit in eine Institution für Kinder der neuen chinesischen Elite. Die Kleinen bekommen hier Computer- und Musikunterricht, lernen Kaligrafie, Malerei oder Theaterspielen. Die letzten Jahrzehnte der Ein-Kind-Politik verhinderten die Geburt von 400 Millionen Chinesen, führten zur Abtreibung oder Ermordung von Dutzenden Millionen Mädchen und änderten das chinesische Verständnis von Familie radikal. In den reichsten Städten an der Ostküste, wie Schanghai, hat die Geburtenkontrolle eine Generation von verwöhnten Einzelkindern hervorgebracht, für die nichts gut genug ist. Im Tausch für die Verhätschelung erwarten die Eltern allerdings von ihren »kleinen Kaisern«, sich besonders ins Zeug zu legen, um die in sie gesetzten Hoffnungen zu erfüllen.
    Winzige Balletttänzerinnen bereiten sich im Palast der kleinen Kaiser auf ihre Ballettstunde vor, plustern sich auf wie prahlende Schwäne, heben die Ärmchen und drehen Pirouetten, trippeln auf Zehenspitzen über das Parkett. Die Mütter folgen ihren Töchtern durch den Saal und zupfen im Nachmittagslicht, das durch die großen Fenster des Hauses dringt, ihre Zöpfe und Kleidchen zurecht. Übergewichtige Jungen, eine Seltenheit, die man erst seit ein paar Jahren in China sieht, spielen in einem angrenzenden Saal Posaune. Im Hintergrund hört man die Gesangsklasse von etwa fünfzig Kindern, die vor einer Gruppe amerikanischer Touristen Arien intonieren. Von fern hört man Klavierspiel. Ich folge den Tönen bis in |255| den zweiten Stock und finde Chaojun, deren Finger über die Tasten fegen und sie mit der Präzision eines Montageroboters anschlagen. Chaojuns Augen bleiben geschlossen; sie kann die Noten auswendig, so oft hat sie das Präludium Nr. 2 von Bach schon gespielt.
    »Es ist mein Lieblingsstück«, sagt sie, ohne die Hände vom Klavier zu nehmen.
    Ihr Vater Yang Weiqui steht neben ihr und lauscht ihrem Spiel, als wäre es das erste Mal. Er hat das Gesicht eines chinesischen Bauern, hager durch die viele Feldarbeit an der frischen Luft, sonnengebräunt, ohne dass die Jahre in der Stadt seine liebenswürdigen Züge verwischt hätten. Obgleich sich der Palast der kleinen Kaiser in eine Eliteschule verwandelt hat, nimmt das Institut auch besonders talentierte Kinder aus bescheidenen Verhältnissen auf, die zum halben Preis am Unterricht teilnehmen dürfen.
    Chaojun hat heute Abend ein Konzert und ist zum Üben gekommen. Ein paar Staatsfunktionäre werden an der Veranstaltung teilnehmen, daher ist es ein wichtiger Tag für die Familie. Das »Wunderkind« hat mit acht Jahren Stufe 10 des Musikkonservatoriums von Schanghai erreicht und ist damit zur jüngsten professionellen Musikerin des Landes geworden. 2001 gewann Chaojun ihren ersten nationalen Wettbewerb und hat seither Konzerte in Österreich, Australien, Südkorea, Hongkong und Paris gegeben, wohin sie mit einer offiziellen Delegation des Bürgermeisters von Schanghai reiste, um die Bewerbung der Stadt um die Expo 2010 zu präsentieren. »Ich habe vor 300 Persönlichkeiten aus 88 Ländern gespielt. Es war der größte Tag meiner Laufbahn«, sagt Chaojun in Erinnerung an den Glanz ihres Konzerts in Frankreich.
    Kleine Fernsehauftritte und Artikel in der Presse, die vom »Wunderkind von Schanghai« sprechen, haben ihr in den Kulturkreisen der Stadt eine gewisse Berühmtheit verschafft, Ehrungen, die sie wie eine unabänderliche Bestimmung hinzunehmen scheint. Die hohen Funktionäre der Kommunistischen Partei zählen bei Festen und offiziellen Feiern auf sie und zeigen sie als Paradebeispiel für die Leistungen des Erziehungssystems und als Symbol des neuen |256| Chinas vor. Die Tore der Schanghaier Spielstätten haben sich für Chaojun in einem Alter geöffnet, in dem

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