Kinder des Monsuns
büßte bei einem Unfall in seinem Betrieb den Zeigefinger der rechten Hand ein), sie in der Buchhaltung einer Elektronikfirma. 1993 heirateten sie und zogen nach Schanghai, um sich den neuen chinesischen Traum zu erfüllen. Alle Hoffnung der Familie auf sozialen Aufstieg in die aufstrebende chinesische Mittelschicht ruhte dabei von Anfang an auf diesem kleinen, |252| spindeldürren Mädchen mit lebhaften Augen und einem nervösen Wesen.
Die Eltern beschlossen, dem Mädchen alle Möglichkeiten zu geben, die ihnen selbst im Leben verwehrt geblieben waren. Sie wollten nur für sie arbeiten und ihre Ersparnisse bis zum letzten Yuan in ihre Ausbildung stecken. Herr Yang wollte das Versprechen wahr machen, das im Namen seiner Tochter Chaojun lag, »besser als ein Mann« zu werden, und schenkte ihr eine Aufmerksamkeit, die er für einen Jungen niemals erübrigt hätte. Er war überzeugt, dass seine Tochter doppelt so hart arbeiten musste, um anzukommen. Wo ankommen? Das wusste er nicht. Der Erfolg, oder was er bedeuten könnte, war für ihn ein ferner, unerreichbarer Ort, aber er wünschte sich, dass seine Tochter eines Tages dort hingelangen würde. Der Weg dahin sollte die Musik sein.
Auch die klassische Musik war den Säuberungen der Kulturrevolution in den sechziger und siebziger Jahren zum Opfer gefallen. Sie wurde wie die übrigen Künste verboten, wer sie spielte, wurde von den Roten Garden verfolgt. Die Konservatorien wurden geschlossen, die Instrumente verbrannt. Wer ein Instrument beherrschte, musste seine Fähigkeit verbergen, wollte er öffentlicher Demütigung und Bestrafung entgehen. Der Tod des »großen Steuermanns« Mao und die wirtschaftliche Öffnung der letzten Jahrzehnte brachten die klassische Musik in das Leben der Chinesen zurück. Binnen kurzer Zeit erkannten Millionen von Eltern in ihr einen Weg, auf dem sich ihre Einzelkinder, ihre einzige Chance, hervortun konnten.
Regelmäßig reisen heute Tausende von Familien nach Peking und Schanghai, um alles auf eine Karte zu setzen: die Aufnahme ihres Kindes in ein Konservatorium. An den Tagen der Aufnahmeprüfungen sieht man die Eltern um einen der wenigen Plätze, die jedes Jahr vergeben werden, Schlange stehen. Manche bieten ihre gesamten Ersparnisse auf, um die Aufnahme durch Bestechung zu erreichen, und weinen, wenn sie ihnen verwehrt bleibt. Berufsmusiker zu werden, zum Beispiel Pianist, garantiert noch nicht |253| automatisch Ruhm wie der Gewinn einer Goldmedaille bei den Olympischen Spielen, doch es sichert eine komfortable Existenz und verhilft der Familie zu Ansehen. Es spielt keine Rolle, dass der einzige Sohn üben muss, bis ihm die Finger schmerzen, und kaum noch gerade sitzen kann. Die Verwirklichung von Träumen kostete in China schon immer eine besonders große Anstrengung, und sei es nur aufgrund der unerbittlichen Wahrscheinlichkeitsgesetze, die es einem so schwer machen, sich unter Hunderten von Millionen Landsleuten hervorzutun. Die Eltern dieser Kinder sehen im Klavier oder einem anderen klassischen Instrument das Sprungbrett zu einem hohen sozialen Status, denn in China ist das Klassenbewusstsein zurückgekehrt (wenn es je ganz verschwunden war). Die enorme Strebsamkeit der Kinder ist dabei nur ein Spiegelbild der Ambitionen ihrer Eltern, deren eigene Träume häufig vereitelt wurden in einem Land, das so lange jeden individuellen Ehrgeiz bestrafte und herausragendes Können als Zeichen von Egoismus und Individualismus brandmarkte.
Herr Yang versuchte es zuerst mit der Geige. Er schenkte seiner Tochter eine zu ihrem vierten Geburtstag und zahlte die ersten Stunden im Voraus. Chaojun übte monatelang, bis sie es aufgeben musste, weil sie von der vorgeschriebenen Haltung beim Spielen schreckliche Halsschmerzen bekam. Ihr Vater ließ nicht locker. Er kratzte sämtliche Ersparnisse zusammen, ungefähr 750 Euro, lieh sich von der Familie und Freunden Geld dazu und kaufte ein gebrauchtes, heillos verstimmtes, wurmstichiges Klavier, das alt genug war, um noch den Scheiterhaufen der maoistischen Ignoranz entgangen zu sein.
Mit dem restlichen Geld engagierte er Professor Lin, einen der besten Maestros des Staatlichen Musikinstituts von Schanghai, und gab noch den letzten Yuan für Klavierstunden aus. Professor Lin versicherte den Eltern, dass die Kleine Talent habe. »Gut gemacht, Chaojun«, sagte er an den Tagen, an denen er sein Honorar zurückwies, wohl wissend, dass sich die Familie Klavierstunden zu beinahe 20 Euro nicht leisten
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