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Kinder des Monsuns

Kinder des Monsuns

Titel: Kinder des Monsuns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Jimenez
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andere Mädchen noch mit ihren Puppen spielen.
    All dies ist für eine Familie vom Land, die elf Jahre zuvor mittellos nach Schanghai gekommen war, ein großer, fast unglaublicher Erfolg. Zumindest für sie hat die Stadt der Möglichkeiten ihr Versprechen eingelöst, und Herr Yang ist jeden Tag froh darüber, dass er den Mut hatte, an einem der wenigen Orte ein neues Leben zu beginnen, wo seine Tochter »besser als ein Mann« werden konnte. Wenn alles glattgeht, wird Chaojun damit eine Reise vollenden, die vor drei Generationen begann. Chaojuns Großmutter, Pan Sulian, steht am Beginn dieses Wegs. Sie zog ihre sechs Kinder Tsingtau groß, damals noch ein elendes Dorf ohne Licht und fließendes Wasser. Hier lernte sie den Soldaten der Volksbefreiungsarmee kennen, der ihr Ehemann werden sollte. China war damals ein zerbrochenes und geteiltes, in Armut und Ignoranz versunkenes Reich, ein bloßer Schatten der Jahrtausende alten Zivilisation, die nur einige Jahrhunderte zuvor noch die fortschrittlichste der Welt gewesen war.
    Als Mao 1949 triumphal in Peking einzog und dem Bürgerkrieg und Chaos ein Ende machte, feierte Pan Sulian diesen Erfolg genauso wie der Rest der Chinesen als einen verheißungsvollen Neubeginn. Der große Steuermann gab China seinen Stolz zurück, einte das Land und heilte die offenen Wunden des »Jahrhunderts der Demütigung«, das Mitte des 19. Jahrhunderts mit der britischen Intervention begonnen hatte, mit der japanischen Besatzung eine besonders bittere Fortsetzung fand und mit dem Sieg der Kommunisten endete. Dank Mao konnten die Chinesen wieder erhobenen Hauptes gehen, doch im Gegenzug raubte er ihnen ihre Freiheit, manipulierte ihr Leben und ruinierte das Land. Die Hungersnöte und Säuberungen rissen die Nation innerlich in Stücke. Die Großmutter Chaojuns überlebte die schlimmsten Jahre als Arbeiterin in einer staatlichen Textilfabrik mit einem Lohn von 6 Euro im Monat. Dank ihres Ehemanns beim Militär blieb die Familie vor der Abschiebung in eine Landkommune verschont.
    |257| Chaojuns Mutter, Zhu Li, arbeitete nach der Schule in den ersten Jahren der wirtschaftlichen Öffnung in einer Elektronikfabrik in Tsingtao, einem jener Unternehmen, die bald die Welt mit ihren Produkten »Made in China« überfluteten. Es war eine Zeit, als die Welt noch nicht an den Aufbruch Chinas glaubte und die Mehrheit der Chinesen nicht ahnte, wie sich ihr Leben in den folgenden Jahren verändern würde. Der Kommunismus hatte ihnen Gleichheit im Tausch gegen ihre Freiheit angeboten; der westliche Kapitalismus stellte den chinesischen Bürgern Freiheit im Tausch gegen den Verzicht auf Gleichheit in Aussicht. Mit der 1978 einsetzenden Öffnung wollte China einen neuen Weg einschlagen: Kommunismus ohne Gleichheit und Kapitalismus ohne Freiheit.
    Von Anfang an war offenkundig, dass die politische Repression weitergehen und die Chancen des neuen ökonomischen Liberalismus nicht für alle gleich verteilt waren. Das Land teilte sich in diejenigen, die auf den Zug des Fortschritts aufspringen konnten, und die anderen, die zurückgelassen wurden. Dennoch, das Resultat war ein unendlich besseres, sozial freieres und ohne Zweifel wohlhabenderes Land als das China Mao Zedongs.
    In den folgenden sechs Jahren arbeitete Zhu Li zwölf Stunden am Tag sieben Tage die Woche und schickte einen Teil ihres Lohns ihren Eltern, bis sie ihren zukünftigen Ehemann kennen lernte und ihm nach Schanghai folgte. »Ich war die erste Frau der Familie, die Tsingtao verließ. Als ich in die Stadt kam, konnte ich nicht glauben, was ich sah, es war fantastisch. All diese Menschen auf der Straße, die Hochhäuser und Autos«, erinnert sich Zhu Li. Nun kam die Reihe an Chaojun. Ihr fiel die Mission zu, die letzte Etappe einer Reise zurückzulegen, die drei Generationen von Frauen durch drei verschiedene chinesische Epochen geführt hatte. Nur das China, in dem Chaojun lebt, eröffnet einem mittellosen Menschen ohne Beziehungen die Möglichkeit, es im Leben zu etwas zu bringen. Das Mädchen sollte die letzte Anstrengung unternehmen und in die Zielgerade einbiegen.
    »Weder meine Mutter noch ich hätten uns vorstellen können, |258| solche Chancen wie Chaojun zu haben«, erzählt Zhu Li, während sie in ihrer Wohnung in Schanghai, einem bescheidenen Heim in der Nähe der neuen Geschäftszentren an der Nanjing-Straße, Tee serviert. »Vorher haben wir gelebt, um zu überleben. Da konnte man sich keine hohen Ziele stecken. Nicht hungern, etwas zum

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