Kinder Des Nebels
Skaa-Elendsviertels.
»Oh«, meinte Milen. »War er etwa gut?«
Vin zuckte die Achseln. »Nicht sonderlich.«
Ist das alles, was dir dazu einfällt, Milen? Ein Mann ist gestorben, und du willst wissen, ob ich ihn besser gefunden habe als dich?
»Also, jetzt tanzt er mit den Würmern« sagte Tyden, der letzte Mann in der Gruppe.
Milen schenkte dem Scherz ein mitleidiges Gelächter, was mehr war, als er verdient hatte. Tydens Versuche, lustig zu sein, ließen meist zu wünschen übrig. Er schien sich eher bei solchen Leuten wie den Wüstlingen von Camons Bande wohlzufühlen als bei den Adligen im Tanzsaal.
Natürlich, Dox sagt, tief in ihrem Innern sind sie alle so.
Vins Gespräch mit Docksohn beherrschte noch immer ihre Gedanken. Als sie zum ersten Mal an einem Ball teilgenommen hatte - an dem Abend, bevor sie beinahe umgebracht worden wäre -, war sie der Meinung gewesen, dass alles, was sie sah, nur Lug und Trug war. Wie hatte sie diesen ersten Eindruck so schnell vergessen können? Wie hatte es dazu kommen können, dass sie den Glanz und die Anmut des Adels inzwischen bewunderte?
Nun führte jeder adlige Arm um ihre Hüfte dazu, dass sie sich innerlich wand, als ob sie die Verwesung in ihren Herzen spüren könnte. Wie viele Skaa hatte Milen schon getötet? Und was war mit Tyden? Er schien jemand zu sein, der eine Nacht mit den Huren genoss.
Aber sie spielte noch immer mit. Heute Abend trug sie endlich ihr schwarzes Kleid, denn sie verspürte das Bedürfnis, sich von den anderen Frauen in ihren strahlenden Farben und ihrem oft noch strahlenderen Lächeln abzusetzen. Doch sie konnte sich nicht ihrer Gesellschaft entziehen. Langsam errang sie das Vertrauen jener Leute, die wichtig für ihre Mannschaft waren. Kelsier würde sich freuen, wenn er hörte, dass sein Plan für das Haus Tekiel aufgegangen war, und das war nicht das Einzige, was sie herausgefunden hatte. Sie besaß nun Dutzende kleiner Informationsbrocken, die höchst wichtig für die Bemühungen der Bande waren.
Eine solche Information betraf das Haus Wager. Die Familie bunkerte Vorräte und Waffen, als ob sie sich zu einem großen Krieg der Häuser rüstete. Ein Anzeichen dafür war auch die Tatsache, dass Elant nun noch seltener als früher an den Bällen teilnahm. Nicht dass Vin darüber traurig gewesen wäre. Wenn er kam, mied er sie meistens, und sie wollte sowieso nicht mit ihm reden. Die Erinnerung an Docksohns Worte ließ sie befürchten, sie könnte Schwierigkeiten haben, in Elants Gegenwart höflich zu bleiben.
»Milen?«, fragte Graf Rene. »Hast du immer noch vor, an unserem Muschelspiel morgen teilzunehmen?«
»Natürlich, Rene«, antwortete Milen.
»Hast du das nicht schon beim letzten Mal versprochen?«, fragte Tyden.
»Ich werde da sein«, meinte Milen. »Beim letzten Mal ist etwas dazwischengekommen.«
»Und das wird jetzt nicht passieren?«, wollte Tyden wissen. »Du weißt, dass wir ohne einen vierten Mann nicht spielen können. Wenn du nicht kommen willst, könnten wir jemand anderen fragen ...«
Milen seufzte, hob die Hand und machte eine scharfe Handbewegung zur Seite hin. Die Geste erregte die Aufmerksamkeit Vins, die dem Gespräch nur beiläufig gelauscht hatte. Sie blickte zur Seite und wäre beinahe vor Schreck zusammengezuckt, als sie sah, wie sich ein Obligator der Gruppe näherte.
Bisher war es ihr gelungen, auf den Bällen den Obligatoren aus dem Weg zu gehen. Nach ihrer ersten Begegnung mit einem Prälan vor einigen Monaten - und der nachfolgenden Mobilisierung eines Inquisitors - hatte sie sich stets bemüht, diesen Personen nicht zu nahe zu kommen.
Der Obligator kam herbei und lächelte. Vin fand ihn unheimlich. Vielleicht lag es daran, dass er die Arme vor der Brust verschränkt und die Hände in die weiten Ärmel gesteckt hatte. Vielleicht waren es die Tätowierungen um die Augen, die zusammen mit der alternden Haut faltig geworden waren. Vielleicht war es auch der Blick, mit dem er Vin bedachte; sie hatte den Eindruck, dass er durch ihre Verkleidung sehen konnte. Das hier war nicht bloß ein Adliger, es war ein
Obligator -
ein Auge des Obersten Herrschers und Vertreter seines Gesetzes.
Der Obligator blieb bei der Gruppe stehen. Seine Tätowierungen wiesen ihn als ein Mitglied des Amtes für Orthodoxie aus, des wichtigsten Arms des Ministeriums. Er betrachtete die Gruppe und sagte mit sanfter Stimme: »Ja?«
Milen holte einige Münzen hervor. »Ich verspreche, diese beiden morgen zum Muschelspiel zu
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