Kinder Des Nebels
fest.
»Ich bin Gott«, sagte er.
So anders als der bescheidene Mann aus dem Tagebuch ...
»Gott kann nicht getötet werden«, führ er fort. »Gott kann nicht gestürzt werden. Eure Rebellion - glaubst du, ich hätte so etwas noch nie erlebt? Ganze Armeen habe ich allein vernichtet. Was braucht es, bis ihr mich endlich nicht mehr infrage stellt? Wie viele Jahrhunderte muss ich es euch noch beweisen, bevor ihr dummen Skaa die Wahrheit erkennt? Wie viele von euch muss ich noch töten?«
Vin schrie auf, als sie ihr Bein in die falsche Richtung bewegte. Sofort fachte sie ihr Weißblech an, dennoch traten ihr Tränen in die Augen. Allmählich gingen ihr die Metalle aus. Von ihrem Weißblech war kaum mehr etwas übrig, und ohne es vermochte sie nicht bei Bewusstsein zu bleiben. Sie sackte gegen die Säule; die allomantische Kraft des Obersten Herrschers drückte gegen sie. Der Schmerz in ihrem Bein pochte heftig.
Er ist einfach zu stark,
dachte sie verzweifelt.
Er hat Recht. Er ist Gott. Was haben wir uns bloß gedacht?
»Wie konntet ihr es wagen?«, fragte der Oberste Herrscher und hob Marschs reglosen Körper mit seiner juwelenbesetzten Hand auf. Marsch ächzte leise und versuchte den Kopf zu heben.
»Wie konntet ihr es wagen?«, wiederholte der Oberste Herrscher. »Nach allem, was ich euch gegeben habe? Ich habe euch über die gewöhnlichen Menschen erhoben. Ich habe euch zu Beherrschern gemacht!«
Vin reckte den Kopf. Durch all den Schmerz und die Hoffnungslosigkeit bohrte sich eine alte Erinnerung.
Er sagt immer wieder, dass sein Volk herrschen solle ...
Sie fühlte in ihrem Innern den letzten Rest des Elften Metalls. Sie verbrannte es und sah mit tränenverschleierten Augen zu, wie der Oberste Herrscher Marsch mit einer Hand in der Luft hielt.
Das Vergangenheits-Ich des Obersten Herrschers erschien neben ihm: ein Mann in einem Pelzmantel und schweren Stiefeln, ein Mann mit einem Vollbart und starken Muskeln. Kein Adliger, kein Tyrann. Kein Held, nicht einmal ein Krieger. Ein Mann, der für das Leben in den kalten Bergen gekleidet ist. Ein Schäfer.
Oder vielleicht ein Träger.
»Raschek«, flüsterte Vin.
Verwirrt drehte sich der Oberste Herrscher zu ihr um.
»Raschek«, wiederholte Vin. »Das ist dein Name, nicht wahr? Du bist nicht der Mann, der das Tagebuch geschrieben hat. Du bist nicht der Held, der ausgesandt wurde, um das Volk zu retten ... du bist sein Diener. Du bist der Träger, der ihn gehasst hat.«
Sie hielt einen Moment inne. »Du ... du hast ihn umgebracht«, flüsterte sie. »Das ist es, was in jener Nacht passiert ist! Das ist der Grund, warum das Tagebuch so plötzlich abbricht. Du hast den Helden ermordet und dann seinen Platz eingenommen. Du bist an seiner Stelle in die Höhle gegangen und hast die Macht für dich selbst beansprucht. Aber anstatt die Welt zu retten, hast du die Herrschaft über sie angetreten.«
»Du weißt überhaupt nichts!«, fuhr er sie an, während er noch immer Marschs schlaffen Körper in der einen Hand hielt. »Du weißt gar nichts davon!«
»Du hast ihn gehasst«, sagte Vin. »Du warst der Ansicht, ein Terriser solle der Held sein. Du konntest die Tatsache nicht ertragen, dass er - ein Mann aus dem Land, welches das deine unterjocht hat - die Prophezeiung deines eigenen Volkes erfüllen sollte.«
Der Oberste Herrscher hob eine Hand, und plötzlich spürte Vin, wie sich ein unglaubliches Gewicht gegen sie presste. Die allomantische Kraft, die gegen die Metalle in ihrem Magen und ihrem Körper drückte, drohte sie wieder gegen die Säule zu schmettern. Sie schrie auf, fachte ihren letzten Rest Weißblech an und kämpfte darum, bei Bewusstsein zu bleiben. Nebelschwaden wanden sich um sie herum; sie krochen durch das zerbrochene Fenster und über den Boden.
Von draußen hörte sie ein leises Geräusch. Es klang beinahe wie ... ferne Freudenschreie. Wie ein Chor aus tausend frohen Kehlen. Fast hatte es den Anschein, als feuerten sie Vin an.
Was macht es noch aus?,
dachte sie.
Jetzt kenne ich das Geheimnis des Obersten Herrschers, aber was nützt es mir? Er war ein Träger. Ein Diener. Ein Terriser.
Ein Ferrochemiker.
Benommen hob sie den Blick und sah wieder die beiden Reifen an den Oberarmen des Obersten Herrschers glitzern. Reifen aus Metall; Reifen, die seine Haut durchbohrten, so dass Allomantie ihnen nichts anhaben konnte. Warum? Angeblich trug er das Metall als Zeichen seiner Tapferkeit und Kühnheit.
Er sorgte sich nicht darum, dass jemand an
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