Kinder
hin.
»Muss ja«, sagte sie knapp, schien aber kein Interesse an einem
längeren Gespräch zu haben. Sie schnäuzte sich und sah dann gespannt zur Tür.
Pietsch folgte ihrem Blick: Mit wehendem Mantel eilte eine groß gewachsene, hagere
Frau ins Zimmer, ließ einen abschätzenden Blick über die Anwesenden gleiten und
ging zu ihrem Platz. Sie platzierte eine dünne Aktentasche auf dem Tisch, legte
ihre Hände entspannt ineinander und stand nun kerzengerade und stumm da.
Die meisten Eltern hatten bemerkt, dass die Klassenlehrerin
eingetroffen war, und setzten sich. Meiring, ein grobschlächtiger Handwerker
und Vater des ziemlich begabten Marius, hatte mit dem Rücken zur Tür auf einem
Tisch gesessen und wurde von seinem Gesprächspartner auf die Lehrerin
aufmerksam gemacht. Meiring sah sich um, bemerkte den kalten Blick, mit dem
Rosemarie Moeller ihn fixierte, und beeilte sich, auf dem Stuhl seines Sohnes
Platz zu nehmen.
Allmählich verebbte ein Gespräch nach dem anderen.
»Wissen Sie, dass die Schüler sie Vogelscheuche nennen?«, raunte
Pietsch seiner Nachbarin zu, doch die hörte kaum hin, wirkte nervös und sah
aufmerksam zu der Lehrerin hin.
Es dauerte noch ein, zwei Minuten, bis Stille im Raum herrschte.
Dann erst kam wieder Bewegung in die Lehrerin.
»Guten Abend, meine Damen und Herren.«
Sie klang sehr förmlich, etwas spröde. Ihre recht tiefe Stimme war
fest und etwas schneidend.
»Ich begrüße Sie herzlich zum ersten Elternabend. Mein Name ist
Rosemarie Moeller, ich bin seit Anfang dieses Schuljahres die Klassenlehrerin
Ihrer Kinder. Und wer mit meinem normalen Namen noch nichts anfangen kann: Ich
weiß, dass mich die Kinder insgeheim ›Vogelscheuche‹ nennen.«
Sie sah zu Rainer Pietsch hinüber. Er schluckte und fühlte sich
wieder wie damals in der siebten Klasse, als er mit seinen Kumpels einen
Mitschüler in den Papierkorb gesteckt hatte und dafür vom Rektor in den Senkel
gestellt worden war. Um ihn herum wurde vereinzelt Gelächter laut, es klang
aber eher nervös als befreiend – und Rosemarie Moeller verzog dazu keine Miene.
»Ich unterrichte Ihre Kinder im Fach Deutsch, und außerdem liegt es
mir als Klassenlehrerin am Herzen, dass sie sich insgesamt weiterentwickeln.
Dazu haben wir Ihren Kindern einige Fragen gestellt …«
»Sehr private Fragen!«, schnaubte Meiring.
Rosemarie Moeller sah ihn an und hob langsam die rechte Hand.
»Herr Meiring, wir wollen doch einige Grundregeln beachten: Wenn Sie
etwas beizutragen haben, dann melden Sie sich bitte. Wenn wir das von Ihren
Kindern erwarten, sollten wir ihnen kein schlechtes Beispiel geben, meinen Sie
nicht auch?«
Meiring, dieser bullige Kerl, den Rainer Pietsch schon häufiger
ruppig und selbstbewusst erlebt hatte, sackte unter dem Blick der Lehrerin
regelrecht in sich zusammen. Rosemarie Moeller nickte kurz – seine Körperhaltung
schien ihr Bestätigung genug, dass er sie verstanden hatte.
»Die Antworten Ihrer Kinder haben wir analysiert. Das zeigt uns Wege
auf, wie Ihre Kinder ihr Leistungsvermögen steigern können. Und das« – sie sah
noch einmal kurz zu Meiring hin – »ist uns doch allen wichtig, nicht wahr?«
Einige Eltern räusperten sich, viele nickten beflissen. Christine
Werkmann wirkte unruhig, sie schob einen Stift hin und her und schlug ihren
Block auf – auf der ersten Seite hatte sie sich Notizen gemacht. Rainer Pietsch
lugte unauffällig hinüber, konnte aber nichts entziffern: Die Frau hatte eine
fürchterliche Klaue.
In der ersten Reihe ging eine Hand nach oben, Rosemarie Moeller
nickte knapp.
»Aber müssen Sie dazu wirklich wissen, wie groß unsere Wohnung
ist?«, fragte Karin Knaup-Clement. »Und ob wir unsere Kinder noch in den Arm
nehmen? Oder ob wir zulassen, dass unsere Kinder uns nackt sehen – das ist
wirklich sehr privat, da hat Herr Meiring recht.«
Rosemarie Moeller lächelte der schlanken Unternehmensberaterin
nachsichtig zu und nickte dann.
»Noch sind wir nicht ganz fertig mit unserer Analyse, aber zu fast
allen Kindern haben wir schon vielversprechende Ansätze gefunden. Ihre Tabea
zum Beispiel könnte in den Fremdsprachen ohne allzu große Mühe Einsen erreichen.«
»Einsen?«
Karin Knaup-Clement lachte kurz auf. Tabea war aktuell von kaum
etwas so weit entfernt wie von einer Eins in Englisch, und auch für Französisch
sah es nicht besonders gut aus.
»Ja«, nickte die Lehrerin und blieb ernst. »Dazu wäre es hilfreich,
wenn sie beim Abendbrot ab und zu auch von der
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