Kinder
meisten aber
vorsichtshalber nur aus den Augenwinkeln.
»Sie scheinen das Gefühl zu haben«, sagte die Lehrerin schließlich
in ruhigem Tonfall, »dass Sie sich verteidigen müssen. Müssen Sie das? Müssen
Sie sich Vorwürfe machen? Das, Frau Werkmann, will ich nicht beurteilen, das
können nur Sie selbst.«
Christine Werkmann schien schwer getroffen. Sie atmete heftig,
dachte wohl fieberhaft über eine Antwort nach – um sich dann wortlos ihren
Stift, ihren Block und ihre Tasche zu schnappen. Sie stieß ihren Stuhl
beiseite, marschierte durch das Klassenzimmer, ohne die Lehrerin noch eines
Blickes zu würdigen, riss die Tür auf und knallte sie hinter sich wieder zu.
Die Lehrerin stand währenddessen unbewegt. Nur um ihre Mundwinkel
zuckte es ganz leicht – es war aber nicht zu erkennen, ob sich die Frau eine
wütende Miene verkniff oder ein triumphierendes Lächeln.
Als sich die schnellen Schritte der Mutter schließlich hallend im
Hausflur entfernten, ging Rosemarie Moeller langsam auf den umgekippten Stuhl zu,
stellte ihn wieder auf, ging zurück nach vorne an die Tafel, blieb kurz mit dem
Rücken zum Raum stehen und drehte sich dann wieder um.
»Sie sehen selbst: Disziplin ist nicht jedermanns Sache. Und wir –
mein Mann, ich und alle Kollegen, die unsere Überzeugung teilen – wollen Ihre
Kinder vor solchen Auftritten bewahren.«
Im Raum hätte man eine Nadel fallen hören können. Rosemarie Moeller
allerdings legte äußerlich unbeeindruckt ihre Hände ineinander und sah erneut
in die Runde.
»Ich habe nun noch einige Informationen zum Lernstoff und dazu, wie
Sie Ihre Kinder in den kommenden Wochen und Monaten unterstützen können.«
Der Abend ging ohne weitere Wortmeldung zu Ende.
Kurz vor zwölf verließ Franz Moeller die Klasse 9c, weil
er dringend etwas aus dem Lehrerzimmer holen müsse, wie er den Schülern gesagt
hatte. Er ging mit lauten, schnellen Schritten den Flur entlang und die Treppe
hinunter, drehte unten um und ging leise wieder nach oben, wo er sich still
neben die Tür zum Klassenzimmer stellte.
Hinter der Tür war kein Mucks zu hören, die Schüler schienen
konzentriert die Aufgaben zu erledigen, die er ihnen gegeben hatte. Franz
Moeller sah auf die Uhr: Die Arbeit sollte noch für knapp zehn Minuten
ausreichen. Er wartete.
Aus dem benachbarten Klassenzimmer kam Hannes Strobel, der während
seiner Doppelstunden gerne eine kleine Zigarettenpause im versteckt liegenden
Schulgarten einschob – und den Schülern für diese Zeit meistens kleine
Mathetests zum Üben vorlegte. Als er Franz Moeller entdeckte, zögerte er kurz,
bevor er dann doch mit festem Schritt an dem Kollegen vorbeischritt und ihm im
Vorübergehen knapp zunickte.
Franz Moeller sah ihm einen Moment nach, ein verächtliches Lächeln
spielte um seine schmalen Lippen. Dann wurde es wieder still im Flur, er
wartete weiter.
Als hinter der Tür zum Klassenzimmer die ersten Gespräche zu hören
waren, schaute er auf die Uhr: siebzehn Minuten. Das war ein Anfang, aber
längst noch nicht gut genug.
Er stellte sich vor die Tür, legte die Hand auf die Klinke und ging
in Gedanken kurz die Profile der Schüler durch. Er würde ein Exempel
statuieren.
Lukas hatte später Unterricht, nun war er kurz an der
Bushaltestelle stehen geblieben und hatte sich dann für einen anderen Weg zur
Schule entschieden. Als er den Schulhof erreichte, war es deshalb schon kurz
vor dem Beginn der Stunde, und vor dem Gebäude waren nur noch ein paar Schüler
aus der Oberstufe zu sehen, die betont lässig auf die Eingangstür
zuschlenderten.
Lukas sah sich kurz nach allen Seiten um, dann flitzte er zu den
Oberstuflern hinüber und drückte sich direkt hinter ihnen durch die
Eingangstür.
Eine Etage darüber stand Michael an der Tafel und wusste nicht mehr
weiter.
»Na, Michael«, sagte Rosemarie Moeller in seinem Rücken, »das kannst
du doch besser, nicht wahr?«
Michael schluckte. Die Moeller hatte ihn bisher noch nicht
kritisiert, er war noch kein einziges Mal unangenehm aufgefallen – aber aus den
anderen Klassen machten Geschichten die Runde, die ihm ordentlich Angst
einjagten vor dieser großen, seltsam gekleideten Frau.
Schnell kritzelte er einige Begriffe in das skizzierte Schema, dann
trat er einen Schritt zur Seite. Rosemarie Moeller musterte das Ergebnis, sah
dann Michael Pietsch an und lächelte nachsichtig. Dann trat sie selbst an die
Tafel, wischte »Gestütsrecht« ab und schrieb »Geblütsrecht« an die frei
gewordene
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