Kinder
Stelle.
Michael lief knallrot an.
»Na, so schlimm war das ja nicht – und wenn man sich die
Verhältnisse von damals vor Augen führt, ist der Unterschied eigentlich kein
ganz so großer.«
Michael traute seinen Augen kaum: Rosemarie Moeller lächelte, und es
sah auf eine steife Art sogar freundlich aus. Konnte es sein, dass die
Geschichten vom Pausenhof erfunden waren? Geschichten von Schülern, die bloßgestellt
und unter Druck gesetzt worden waren?
Als Michael zu seinem Platz zurückging, funkelten ihn zwei seiner
Mitschüler feindselig an: Tobias und Marc, die mit ihren Auftritten an der
Tafel zuletzt weniger gut weggekommen waren.
Anders als sonst sehnte Lukas den Schulschluss an diesem
Tag nicht herbei. Während der Unterrichtsstunden hatten ihm Marius und Hype mit
scharfen Blicken und Grimassen zu verstehen gegeben, dass sie ihr gestriges
Zusammentreffen noch nicht vergessen hatten. In den Pausen seither war er den
vier Jungs aus dem Weg gegangen oder er hatte sich zu anderen Klassenkameraden
gestellt, um von ihnen gewissermaßen Deckung zu bekommen. Das hatte ihn bisher
über den Vormittag gebracht, aber nach der letzten Stunde konnte es eng für ihn
werden.
Etwa zehn Minuten vor dem letzten Klingeln kam ihm die rettende
Idee: Er würde die Schule einfach mit Kevin zusammen verlassen – schließlich
saßen sie nebeneinander, und Kevin hätte sicher nichts dagegen, wenn er ausnahmsweise
mal nicht alleine nach Hause trotten müsste.
Unter einem Vorwand verwickelte Lukas seinen Mitschüler gleich nach
der Stunde in ein Gespräch, und es stellte sich heraus, dass Kevin noch bei
einem Drogeriemarkt vorbeiwollte, um sich dort Nachschub für seine Spielekonsole
zu kaufen. Kurz wägte Lukas ab – aber was er sich von seinen Eltern für die
ungewohnt späte Heimkehr würde anhören müssen, war leichter zu ertragen als die
drohende Tracht Prügel.
Kevin wunderte sich zwar, warum sich Lukas ihm anschließen wollte –
schließlich waren sie im vergangenen Jahr nicht gerade gut miteinander
ausgekommen. Aber dann zuckte er die Schultern, murmelte ein »Okay« und war
insgeheim ganz froh, dass er nun vielleicht doch noch einen Freund finden
würde.
Als die beiden den Schulhof in Richtung Innenstadt verließen,
standen Marius und seine Kumpels neben dem Ausgang, den Lukas sonst immer nahm.
Die vier Jungs sahen Kevin und Lukas nach, und als Lukas sich auf dem Gehweg
noch einmal umdrehte, hob Marius die rechte Hand und rieb Daumen, Zeige- und
Mittelfinger aneinander.
Sarah verließ die Schule erst ein paar Minuten später als
sonst. Sie sah gerade noch, wie Lukas mit dem dicken Kevin um die Ecke
verschwand und wunderte sich ein wenig, wohin ihr Bruder wollte und warum er
sich plötzlich so gut mit dem Jungen vertrug, der für ihn im vergangenen Jahr
eine solche Plage gewesen war. Aber Lukas war alt genug, um so etwas selbst zu
wissen.
Hinter ihr kam Hannes Strobel aus dem Gebäude, der ihr im
Sportunterricht gerne mal auf den Hintern stierte, und neben ihm ging der neue
Referendar mit den nachlässig verwuschelten Locken, der so süße dunkle Augen hinter
der runden randlosen Brille hatte. Kurz sah sie noch zu ihm hin, dann bemerkte
sie Strobels Blick und ging schnell weiter.
Am Ausgang zum Gehweg hin standen vier Jungs aus Lukas’ Klasse
zusammen, und einer von ihnen formte die Lippen zu einem leisen Pfiff.
»Ach, du meine Güte«, grinste sie breit, »Kindergeburtstag …
Verschluck dich mal nicht, Kleiner, und heb dir das Pfeifen für deine
Altersklasse auf.«
Damit ging Sarah weiter in Richtung der Bushaltestelle und spürte
förmlich, wie der Kleine hinter ihr rot wurde. Es war lächerlich, wie sich hier
an der Schule schon die Jüngsten aufspielten – trotzdem gönnte sie sich ein
kleines Lächeln: Selbst ein solches Kompliment war ja durchaus mal angenehm.
Ihr Lächeln erstarb, als sie die Bushaltestelle erreichte: Auf der
Bank neben dem Fahrplanaushang lümmelte Rico, ein eingebildeter
sechzehnjähriger Schüler aus der Werkrealschule, der sie seit ein paar Tagen
nicht mehr aus den Augen ließ und sie offenbar davon überzeugen wollte, dass
sie sich mal mit ihm verabreden sollte.
Mit versteinerter Miene stöckelte sie an Rico vorbei und mischte
sich am anderen Ende der Haltebucht in eine Gruppe laut lachender Mädchen.
Das Mittagessen war längst abgeräumt, als Lukas nach Hause
kam. Seine Mutter fragte ihn, wo er denn so spät herkomme, und er erzählte,
dass er Kevin in die Stadt begleitet
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