Kinder
einiger Zeit ging sie solche Aufgaben konzentrierter an – und ihr fiel
alles leichter, was mit der Schule zu tun hatte.
Na ja, fast alles: Damit, dass Sören seit seinem Selbstmordversuch
nicht mehr zum Unterricht gekommen war, kam sie nicht besonders gut klar. Sörens
Banknachbar Hendrik war ihr keine große Hilfe und er schien selbst auch keinen
Kontakt mehr zu seinem Freund zu haben.
Sarah sah auf die Uhr: Wenn sie jetzt gleich losgehen würde, könnte
sie nach Sören sehen und trotzdem rechtzeitig zum Abendessen wieder daheim
sein. Sie dachte einen Moment nach, dann schnappte sie sich ihre Jacke und
flitzte aus dem Haus.
Rainer Pietsch hatte Schnupfen und Kopfweh, und weil für
den Tag nichts Dringendes mehr anstand – Mayer war zudem zwei Tage auf
Dienstreise –, meldete er sich gegen 15 Uhr ab. Als er von der Schnellstraße
abbog, sah er auf die Uhr – in zehn Minuten war Michaels Nachmittagsunterricht
zu Ende, er konnte ihn noch bequem an der Schule abholen und nach Hause fahren.
Vielleicht würde sich die Gelegenheit ergeben, mal in Ruhe mit seinem Sohn zu
reden.
Als Rainer Pietsch den Wagen am Straßenrand ausrollen ließ, kamen
schon die ersten Schüler aus dem Gebäude. Mit den Letzten kam Michael auf den
Hof heraus. Er verabschiedete sich von seinen Freunden Ronnie und Petar und
machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle.
Als er seinen Vater bemerkte, blieb er kurz stehen, dann ging er
weiter, am Wagen vorbei. Rainer Pietsch stieg aus, rief ihm hinterher, aber
Michael machte keinerlei Anstalten, stehen zu bleiben.
Rainer Pietsch knallte die Wagentür zu und rannte die paar Schritte,
überholte seinen Sohn und stellte sich ihm in den Weg. Michael sah seinen Vater
wütend an, wie fast immer in letzter Zeit, und versuchte an ihm vorbeizukommen.
»Mensch, Michael, jetzt hör doch mit diesem pubertären Blödsinn
auf!«, brach es aus Rainer Pietsch hervor. Er packte seinen Jungen mit beiden
Händen fest an den Oberarmen und schaute ihm in die Augen. Michael sträubte
sich, wand sich, seine Augen schimmerten ein wenig.
»Michael, wir haben dich lieb, wirklich, aber du musst uns helfen,
dich zu verstehen.«
Rainer Pietsch ließ Michael los und trat einen Schritt zurück. Der
Junge stand still vor ihm, mit hängenden Schultern und gesenktem Blick sah er
aus wie ein Häuflein Elend.
»Komm her, mein Junge«, sagte Rainer Pietsch schließlich, trat an
ihn heran und nahm ihn fest in die Arme. Erst standen sie beide so beieinander,
dann streichelte Rainer Pietsch seinem Sohn sachte über den Rücken, wie er es
früher immer so gemocht hatte.
Doch jetzt versteifte sich Michael sofort, riss sich los, starrte
seinen Vater wütend an und stapfte an ihm vorbei in Richtung Bushaltestelle.
Völlig frustriert stand Rainer Pietsch noch einen Moment auf dem
Gehweg, dann ging er langsam zum Wagen zurück und fuhr nach Hause.
Am Fenster stand Rektor Wehling und dachte darüber nach, was er da
gerade beobachtet hatte.
Als der Bus weiterfuhr, gab er den Blick auf das Haus
frei, in dem Sören wohnte. Ein Haus weiter links hockte Hendrik auf einem
Waschbetonverschlag, wie er häufig in der Gegend als Stellplatz für Mülleimer
verwendet wurde.
Erst wollte sich Sarah gleich wieder auf den Heimweg machen, doch
das Geräusch des anfahrenden Busses hatte Hendrik wohl aus seinen Gedanken
aufgeschreckt. Er sah hinüber zur Bushaltestelle, bemerkte seine Klassenkameradin,
stutzte kurz, dann winkte er Sarah zu. Sie überquerte die Straße und ging das
letzte Stück zu Sörens Haus.
»Macht nicht auf!«, rief Hendrik zu ihr hinüber.
Sarah zuckte mit den Schultern und ging trotzdem zur Haustür. Sie
klingelte mehrmals, oben reagierte niemand. Schließlich trat sie ein paar
Schritte zurück und sah an dem Haus hoch.
»Dritter Stock, ganz links«, rief Hendrik ihr zu.
An dem Fenster, das er beschrieben hatte, waren die Gardinen
zugezogen.
»Der macht nicht auf, hab ich dir doch gesagt.«
Sarah sah noch kurz zu dem Fenster hoch, dann ging sie zu Hendrik
hinüber.
»Wie lange bist du schon da?«
Hendrik sah auf die Uhr.
»Eine Stunde, heute.«
»Versuchst du das öfter und wartest, dass er doch noch aufkreuzt?«
Hendrik nickte, sah zu dem Fenster hinauf. »Aber Sören macht einfach
nicht auf. Und er kommt auch nicht runter.«
Sarah musterte Hendrik und wartete. Er schien noch etwas loswerden
zu wollen.
»Ich glaube sowieso, dass ich das eher für mich mache als für ihn«,
sagte er nach einer Weile und
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