Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt
das Regenwasser nicht mehr fassen konnten. Der Maisacker war davon geschwemmt worden, einige Straßen waren nicht mehr passierbar. Nacht für Nacht trieb das Gewitter über die Stadt, Wetterleuchten erhellten verlassene Vorgärten und erschrockene Gesichter. Vom schlimmsten Herbst seit hundert Jahren sprach man. Der Grüne See, dort, wo man den Teufel gesehen hatte oder es jedenfalls glaubte, war über die Ufer getreten und floss auf die Stadt zu. Ertrunkene, aufgeblähte Ratten trieben auf dem eisigen Wasser. Sandsäcke wurden abgefüllt und herbeigeschafft, zuerst zu den Häusern am Stadtrand, die selbst in einem regenschwachen Herbst ihre Keller aufgeben mussten. Tische, Schränke und Fernsehgeräte wurden in obere Stockwerke getragen.
Versuche, das Wasser abzupumpen, wurden bereits nach zwei Tagen wieder aufgegeben, da das Wasser zu schnell nachlief. Die ersten Strommasten fielen, einer davon spaltete das Dach des Bauer-Hauses wie eine Axt das Brennholz. Einige Stunden lang züngelte die angerissene Überlandleitung wie eine wild gewordene Schlange durch die morschen Dachbalken, bis sie schließlich riss. Aufstobende Funken setzten den Dachboden in Brand, das Feuer verzehrte innerhalb von Minuten die Habseligkeiten dort oben und verschlang bis Mitternacht das gesamte Haus. Martin Bauer, von dem man sagte, er könne selbst den Allmächtigen unter den Tisch trinken, kam dabei um und war somit das erste Opfer jenes dunklen Herbstes. Seinen verkohlten Leichnam fand man vier Wochen später, als der erste Schnee sich über alles setzte.
Dunkel in der ganzen Stadt wurde es dann schließlich am 31. Oktober, alleine der Mond tief über den Bäumen, der ihnen Licht gab. Den Lebenden und den Toten.
Und so begann es.
Die ersten Gespenster
Allerheiligennacht 1986
»Hast du das gehört?« Hilde Franke sah auf. Im Kerzenschein wirkte ihr Gesicht älter, die Furchen auf ihrer Stirn tiefer.
Ihr Mann horchte kurz, dann schüttelte er den Kopf.
Seitdem der Strom ausgefallen war, hatte Hilde ein beklemmendes Gefühl beschlichen, ein Gefühl, für das sie keine Worte fand. Es war mehr als Angst. Oft war sie zum Fenster gegangen und hatte hinaus geblickt, jedoch ohne etwas erkennen zu können. Kein Mensch auf der Straße, die meisten Häuser dunkel und leblos. Mit Sandsäcken hatten sie versucht, das Wasser abzuwehren, ohne Erfolg. Vermutlich stand schon längst die Küche unter Wasser und mit ihr die Nähmaschine, ein Gedanke, den sie schnell von sich schob. Morgen früh erst würde sie wieder nachsehen, heute lauschte sie nur dem leisen Rauschen der kleinen Rinnsale, die durch jede Ritze strömten, und betete für ein baldiges Ende des Regens.
Der Kühlschrank war natürlich auch hinüber. Was sie hatte finden können an Konservendosen und Einmachgläsern stand nun auf dem leeren Schreibtisch und dem Holzboden. Auch einige Flaschen Wein (ob es jemals wieder einen Anlass dafür geben würde?) und einige Flaschen Bier, die ihr Mann Jakob als Allererstes hinauf gebracht hatte. Hier oben war ihr Schlafzimmer und eine kleine Abstellkammer. In der Kammer standen zwei Eimer, die sie als Toilette benutzten, seitdem die erste Ratte durch die Kanalrohre aus dem Klo gekrochen war. Mittlerweile kamen unzählige. Man konnte sie hören, ihr Kratzen und Scharren an den Türstöcken und Fensterrahmen.
»Hab mich wohl getäuscht. Ich werde noch ganz verrückt mit dem ganzen Wasser«, sagte Hilde und strich bedächtig über ihr Gebetsbuch, das in ihrem Schoß lag.
Ihr Mann nickte.
»Weißt du, was mich noch verrückt macht? Außer dem Wasser?«
Dieses Mal nickte ihr Mann nicht, sondern sah zu Boden.
»Seit wir hier oben sind, frage ich mich, was in aller Welt das hier für ein Zimmer ist. Du sitzt auf einem Bett, hast du das gesehen? Natürlich hast du das gesehen, du bist ja nicht blind.«
»Vielleicht ein Gästezimmer.«
»Ein Gästezimmer?«
»Ja.«
»Das da ist ein Kinderbett und das ein Schreibtisch ... Du hast dein Bier darauf gestellt. Und der Kleiderschrank. Meinst du, er ist leer?« Sie erhob sich, ging auf den Schrank zu und streckte die Hand nach dem Türgriff aus. Sie zögerte, dann ließ sie die Hand sinken und setzte sich wieder in den alten Sessel am Fenster.
»Es ist, als wäre das Zimmer plötzlich da gewesen«, sagte sie nach einer Weile. »War die Tür offen gestanden, als wir hochkamen?«
Ihr Mann sah müde aus. Er nahm einen Schluck aus der Bierflasche. »Ich denke, ja.«
»Du hast recht. Sie war offen
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