Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt
gestanden. Nur einen Spalt, aber sie war offen.«
Satte Regentropfen pochten gegen die Fensterscheibe, züngelnde Blitze zerschnitten den Himmel. Über ihnen ein Donnergrollen.
Tatsächlich konnte sich Hilde Franke nicht erinnern, diesen Raum jemals betreten zu haben. Geradeso, als befände sie sich in einem fremden Haus. Sie sah zu dem Bett mit der bunt bestickten Tagesdecke, auf der ihr Mann saß und ins Leere starrte. Ein Stoffhase, der in der Ecke lag. Eines seiner Augen fehlte, das andere funkelte, machte ihr Angst.
Die Wasserrohre gluckerten, die Dachbalken knarrten. Längst schon hätten sie einen neuen Dachstuhl einziehen müssen. Sie hofften, dass die Antenne auf dem Dachfirst dem Sturm standhalten und kein Loch in das Dach reißen würde.
»Haben sie gesagt, wie lange es noch dauern wird?« Ihre Stimme klang heiser.
Ohne zu antworten, schaltete ihr Mann das Radiogerät ein, das sie in letzter Minute hatten retten können. Die Batterien waren schwach. Leise sangen die Carpenters »Top of the world«.
»Verfluchte Scheiß-Affenmusik!«, raunte ihr Mann und nahm einen hastigen Schluck. Bier rann über sein Kinn und befleckte die Tagesdecke.
Hilde sah auf ihre Armbanduhr: eine Minute vor Mitternacht. Vielleicht würden sie dieses Mal etwas in den Nachrichten hören, was sie beruhigen konnte. Der Radiosprecher faselte aber nur etwas von OPEC und einer Ölkrise.
»Als Kinder haben wir vor Allerheiligen immer Rüben ausgehöhlt, weißt du noch?«
»Hm«. Jakob dachte an den Heizbrenner im Keller und an das Geräusch, als das Wasser ihn erreicht hatte. Vermutlich war einiges an Öl ausgelaufen und machte kleine Regenbogenaugen auf dem Wasser.
»Wir haben Rüben ausgehöhlt und Kerzen rein gestellt, damit sie leuchten. Haben wir jeden Herbst gemacht. Mein Vater hat immer erzählt, es würde die bösen Geister fernhalten. Vor Allerheiligen, du weißt schon. Ich will gar nicht wissen, wie es auf dem Friedhof aussieht. Hoffentlich ist unser Grabstein nicht umgefallen.«
Seit fünf Jahren hatten sie einen eigenen Grabstein und ein eigenes Grab. Ihre Namen waren bereits eingemeißelt und in Gold gefasst. Jedes Wochenende ging Hilde an ihr Grab und jätete Unkraut, pflanzte Blumen oder strich einfach nur die dunkle Erde glatt.
»Weiterhin mäßiger Regenschauer und Nachtfrost. Keine Unwetterwarnungen für die gesamte Region«, näselte der Nachrichtensprecher.
»Der soll mal seinen Arsch hierher bewegen, dann sieht er mal was ein Unwetter ist. Keine Unwetterwarnungen? Scheiße noch mal, da draußen geht die Welt unter und der quatscht von Nachtfrost. Scheiße, Scheiße, Scheiße!«
Jakob schaltete das Radio aus und machte sich die letzte Flasche Bier auf. Sie schäumte über. Morgen würde er versuchen, zum Weiss-Laden zu kommen, um sich neues Bier zu besorgen. Zur Not würde er einfach die Tür einschlagen und sich bedienen. Nach dieser Flut wäre eine zerschlagene Scheibe ihr geringstes Problem.
Es klopfte.
»Hast du das gehört?« Hilde saß kerzengerade.
»Ich bin nicht taub«, sagte ihr Mann mit einer abwertenden Geste. »Waren bestimmt wieder die Ratten. Oder Vögel. Ja, wahrscheinlich ein blöder Vogel, der gegen die Fensterscheibe geflogen ist. Sind ja ganz verrückt geworden bei dem Gewitter.«
Es klopfte ein zweites Mal.
Dann erklang eine dünne Mädchenstimme: »Mama?«
Der Türgriff wurde nach unten gedrückt.
Ein Blitz schlug in den Kirchturm ein, und die Glocken vibrierten.
»Mama! Ich bin wieder da!«
Und die Tür ging auf.
Karla Gerber hatte in den letzten Nächten schlecht geträumt. Immer wieder war sie aufgewacht, die niedrige Zimmerdecke über ihr, die aufgeklebten Phosphorsterne längst verloschen. Auf dem Fenstersims die Bastelarbeiten aus der Schule, ein Bilderrahmen, ein schief gewordener Holzwürfel und ein Ding aus gebranntem Ton, das ein Elefant hätte werden sollen, aber aussah wie ein krankes Nilpferd.
Auch heute Nacht hatte sie schlecht geträumt. Von Dingen, die sie nicht verstand. Von ihrem Vater, der sie manchmal seltsam anschaute, wenn sie am Küchentisch Hausaufgaben machte. Wie ein Löwe die Beute.
Früher war alles in Ordnung gewesen, sie hatten viel Spaß gehabt. Waren mit dem Fahrrad zusammen zum Grünen See gefahren, in ihren Taschen Limonade und belegte Brote, die ihre Mutter gemacht hatte. Aber seitdem ihr Vater seine Arbeit in München verloren hatte (er hatte für die Deutsche Bahn gearbeitet), war er ein anderer. Seitdem hatte sie Angst vor ihm,
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