Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt
ganzen Abend lang hatte Stone Marmeladenbrote geschmiert, während Peter von seiner Frau sprach. Davon, dass er ihr endlich mal zeigen würde, was ein richtiger Mann war. Stone hatte hin und wieder genickt.
Das Haus knarrte in jeder Ecke, es war alt und das Dach undicht. Wasserflecken an den Zimmerdecken, an den Tapeten Schimmelstraßen. Sonst strich hier immer eine Horde Katzen umher, die alle auf den Namen San Francisco hörten. Doch heute war keine einzige zu sehen. Vermutlich hatte sie das Gewitter auf die Felder geschreckt, runter zum Kinderland.
Stone ging aus der Küche. Peter hörte ihn die Holztreppe hinaufgehen und dabei stöhnen.
»Verrückter als ein tollwütiger Hund«, sagte Peter leise. Er lachte und zündete sich eine Zigarette an. Die Küchenuhr über dem Herd ging ein wenig nach, es musste fast Mitternacht sein. Seine Frau würde vielleicht schon schlafen, wenn er nach Hause kam. Wenn er Pech hatte, würde sie im Wohnzimmer auf ihn warten, die Arme verschränkt, die Hände zu Fäusten verkrampft.
»Gleich geht´s los, gleich geht´s los.« Stone kam die Treppe herunter gelaufen.
»Was geht los?«
»Gleich, gleich, gleich!«
»Herrgott, was geht gleich los?« Peter knallte die Bierflasche auf den Tisch. »Die Straßen von San Francisco?«
Blitze zuckten durch den Himmel, einer davon schlug in einen Baum ein.
»Siehst du die Kerzen? Hm?« Peter fiel es schwer, sich zu beherrschen.
Stones Augen leuchteten. »Kerzen, ja. Kerzen sind toll!«
»Jaja, Kerzen sind großartig. Aber Kerzen bedeuten auch, dass der Strom weg ist, verstehst du?«
Stone nickte. »Strom weg, ja.«
»Und ohne Strom kein Fernsehen, ganz einfach. Kein Kühlschrank, kein Radio, kein Fernsehen. Verstanden?« Peter spürte ein dumpfes Pochen in seinen Schläfen, und mit jedem Pochen stieg die Lust, seine Stimme in einen Schrei bersten zu lassen.
Regentropfen zerplatzten an der Fensterscheibe.
Stone sah ihn an. Die Kerzen, die er vom Pfarrer bekommen hatte, malten ein kaltes Licht auf sein Gesicht. Peters Wut verschwand, vielmehr hatte er zum ersten Mal ein wenig Angst vor Stone, wenngleich er nicht genau wusste, weshalb.
»Kein Strom, kein Fernsehen. Ja?« Peters Stimme wurde leise, fast sanft.
»Wiederholung! Mike Stone!«
»Jaja, Mike Stone, wer ...«
Der Fernseher im Wohnzimmer ging an. Dann der im Schlafzimmer, und zuletzt folgte der in der Küche.
Peter erschrak so sehr, dass er die Bierflasche umstieß. Das Bier ergoss sich über den Tisch und tropfte auf den Boden. Stone lachte leise.
Der schwere Regen hämmerte auf das Dach.
»Was zum Teufel soll das?«
»Da sind sie! Da sind sie! Da sind sie!« Stone kreischte vor Freude und zeigte mit dem Finger in Richtung Flur.
Peter drehte sich um und erstarrte.
Im Flur standen ein halbes Dutzend Kinder. Sie trugen löchrige Schlafanzüge, schmutzverkrustete Sonntagsanzüge und Leichenhemden, die an ihren dürren Armen und Beinen flatterten. Die stummen Münder rot von Erdbeermarmelade, eine Farbe wie geronnenes Blut.
Peter Stauder schloss die Augen. Zwei Minuten später war er tot.
Sie schlüpfte in ihre Jeans, streifte sich ihren Lieblingspullover über und suchte nach den roten Gummistiefeln. Immer wieder blickte sie zum Fenster, aber dort war kein Gesicht, keine trüben Augen starrten sie an. Natürlich musste sie sich getäuscht haben, kein Kind konnte fliegen. Vor allem kein totes Kind.
Zwischen den Sommersachen und eingemottetem Spielzeug fand Karla schließlich ihre Gummistiefel. Ihre Eltern schliefen im Zimmer nebenan, und manchmal ging ihr Vater auf die Toilette oder in die Küche, um am Küchentisch eine Flasche Bier zu trinken, wenn er nicht schlafen konnte oder mit Kopfschmerzen aufgewacht war. Oder wenn ihr kleiner Bruder Arik schrie. Er schlief in dem schmalen Bett neben seiner Mutter, da er unruhig wurde, sobald sie sich entfernte.
Auf dem Dachboden hörte sie leises Trappeln von Mäusebeinen.
Sie horchte.
Im Haus war es still. Aus dem Wohnzimmer drang das Ticken der alten Uhr, sonst nichts. Draußen das Gewitterbrummen, das Zischen der Stürme über die Häuserecken.
Sie schlich barfuß und auf Zehenspitzen die Treppe hinunter (an den Hausschlüssel hatte sie gedacht, er klimperte in ihrer Hosentasche, die Socken aber hatte sie vergessen, und es würde quietschen, wenn sie in die Gummistiefel schlüpfte). Auf dem Mittelweg hielt sie inne und betete zu Gott, dass sich keine Tür öffnen möge. Aber nichts geschah, ihre Eltern schliefen
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