Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt
noch mehr sogar, seit ihr Bruder auf der Welt war. Arik. Wenn ihr Vater in der Küche stand, in seiner alten Unterhose und dem fleckigen Unterhemd, und vor sich hin murmelte. Ihre Mutter bügelte für einige Leute, damit sie die Raten für das Haus bezahlen konnten. Ihr Auto hatten sie längst verkaufen müssen, auch die Gartenstühle und den Videorecorder.
Karla blickte auf die Uhr, es war kurz vor Mitternacht. Ein paar Zeigerschläger später würde sie nicht mehr zwölf Jahre alt sein. Endlich dreizehn!
Windböen strichen um das Haus. Ein Blitz züngelte am Horizont. Bald darauf ein mächtiges Donnergrollen wie aus dem Bauch eines Riesen.
Eins, zwei, drei
Papa kommt vorbei,
vier, fünf, sechs
er macht dich zur Hex`,
sieben, acht, zehn
wirst Mama nie mehr sehn.
Leise Kinderstimmen von draußen. Zwischen den Regentropfen, in den Pfützen. Ein Kichern, dann ein Wimmern.
Karla setzte sich an den Bettrand, die Arme bedeckt mit Gänsehaut, horchte.
Draußen war es wieder still. Nur der Wind und der Regen sprachen zu ihr.
Karlas Herz pochte wild, und obwohl sie fror, rann Schweiß aus ihren Poren.
Sie setzte die nackten Füße auf den eisigen Boden und ging hinüber zum Fenster.
Da erschien ein Gesicht hinter der Scheibe.
Karla zuckte zurück.
Das Gesicht war grau wie schmutziger Schnee, umrahmt von dunklen, nassen Haaren. Vor Schrecken geöffnete Augen und ein Mund, der ein Lächeln trug. Ein grässliches Lächeln, wie ein verrückt gewordener Zirkusclown. Das Mädchen schien zu fliegen. Ihre Hände berührten das Fensterglas, aufgeweichte blasse Haut, leises Schaben der Fingernägel.
Und dann war es verschwunden.
Karla blinzelte und kniff sich in den Arm. Nein, das war kein böser Traum. Nicht dieses Mal.
Obwohl sie furchtbare Angst hatte vor dem, was sie sehen würde, wagte Karla einen weiteren Blick aus dem Fenster. Sie war erleichtert. Kein Gesicht zeigte sich, nur ein warmes Leuchten in der alten Zigarettenfabrik. Es war ein gutes Licht, ein tröstliches Geschenk der Kerzen. Schatten tanzten an den großen Glasscheiben und erweckten die Fabrik zum Leben.
»Bring mir ein Bier mit, wenn du schon stehst«, sagte Peter Stauder und rülpste leise. Eigentlich hätte er sich längst auf den Weg nach Hause machen sollen, aber er war nicht sonderlich scharf darauf, seiner Frau zu begegnen. Sie hatten wieder einmal den ganzen Tag gestritten, natürlich war es wieder um Geld gegangen. Das Geld, das er ihrer Meinung nach versoff. Was natürlich völliger Blödsinn war, denn sie gab viel mehr Geld aus für ihren blöden Kosmetikkram, der sowieso nichts nutzte (was er ihr jedoch nie im Leben gesagt hätte).
»Eines hab ich noch, eines hab ich noch!« Stone klatschte in die Hände und lachte laut auf.
Natürlich hieß Stone nicht Stone, aber er war jemand, dem man immer schon einen anderen Namen gegeben hatte. Zu wenig Sauerstoff bei der Geburt, hieß es. Stone war Stone, weil er jeden Tag auf dem kleinen orangefarbenen Fernseher seine Lieblingsserie »Die Straßen von San Francisco« ansah. Keine Folge durfte er verpassen. Doch jetzt war der Strom weg und das Wasser da, aber er redete immer noch davon.
Stone machte alles, was man ihm auftrug. Wirklich alles. Als Kind hatte er sogar eine Kröte gegessen, nur, weil man es ihm gesagt hatte. Auch Fliegen, Motten – eigentlich alles Ungeziefer, das man ihm in die Hand legte. Stone war nie zur Schule gegangen, und während die anderen Kinder an den Aufgaben verzweifelten, war er durch die Straßen gerannt, um Bienen oder Hunde zu verfolgen. Er war zwölf als seine Mutter starb, und seitdem lebte er alleine, in einem Haus mit kaputten Fernsehgeräten in jedem Zimmer.
Peter betrachtete ihn. Ein Mann, fast vierzig Jahre alt, die Haare strohblond und struppig. Er trug stets Latzhosen, auch im Winter, und Schuhe, die er in einer Mülltonne gefunden hatte. Manchmal gaben ihm die Leute ein wenig Geld, wenn er ihnen den Rasen mähte oder die Bäume schnitt, aber Stone hielt nicht sehr viel von Geld. Zerknittertes Papier, das er in ein Einmachglas auf dem Kühlschrank stopfte. Ab und zu hatte Peter heimlich etwas daraus genommen, wenn er seine Frau besänftigen wollte. Vielleicht würde er es heute auch wieder tun. Zwanzig Mark in der Hosentasche konnten ihn davor bewahren, die Nacht auf dem Sofa im Wohnzimmer zu verbringen.
»Was ist jetzt mit dem Bier?«
»Hier, hier, hier. Bier, Bier, Bier!«
Das Bier war lauwarm und die Flasche klebrig. Schon den
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