Kindermund (German Edition)
von meiner Schuld. Ich bin sehr verwundert, dass mich niemand verdammt, im Gegenteil. Sowohl der Pfarrer als auch die Nonnen trösten mich und versichern mir, dass ich keine Schuld habe. Trotzdem muss ich Buße tun. Einmal knie ich mich fünfhundert Mal hinter der Bühne auf den Boden. Jedes Mal werfe ich mich langgestreckt hin wie ein tibetischer Mönch auf dem Pilgerweg. Allerdings weiß ich nichts von tibetischen Mönchen oder Buddhismus. Ich mache es, weil ich es muss, und zähle genau mit.
Bei meiner Arbeit und im Umgang mit Menschen tue ich so, als ginge es mir gut. Aber ich spüre, dass ich immer verrückter werde.
Mein Vater ruft an. Er fragt nicht, wie es mir geht. Kein Wort davon, dass ich erfolgreich Theater spiele. Er komme morgen nach Hamburg zu einer NDR-Talkshow und möchte mich sehen. Ich soll im Hotel Atlantic ein Doppelzimmer bestellen und dort auf ihn warten. Er komme dann nachts nach der Talkshow. Mir fällt nichts ein, was ich darauf sagen soll. Ich bin einfach nur sprachlos. »Hörst du mich! Du bestellst das Zimmer und wartest auf mich!«, befiehlt er.
»Ja, ja,«, sage ich und lege auf.
Ich bestelle das Zimmer für ihn, aber er muss die Nacht allein dort verbringen. Katrin holt mich nach der Vorstellung ab, und wir machen uns einen lustigen Abend in einer Pizzeria.
I ch spiele drei Jahre in Hamburg ein Stück nach dem anderen. Unter anderem bei Ulrich Heising, Franz Marijnen, Alfred Kirchner, Ernst Wendt, Peter Zadek. Auch in einer Inszenierung des Gastregisseurs Jérôme Savary bin ich engagiert. Der ist eigentlich Direktor des Pariser Le Grand Magic Circus , der regelmäßig in Hamburg gastiert. Er bietet mir einen Vertrag in seinem Theater an, und ich habe vor, in einem Jahr in Hamburg zu kündigen und zu ihm nach Frankreich zu gehen. Jetzt ist allerdings erst einmal Sommerpause. Ich werde in den Theaterferien zwei Filme drehen. Einen in Wien und einen in Berlin und Holland. Katrin bringt mich zum Bahnhof. Wir umarmen uns. Sie sagt: »Ich glaube, dir widerfährt etwas Wunderbares in diesem Sommer!«
Die Dreharbeiten in Österreich machen großen Spaß. Wir wohnen alle in einem alten Schloss in Baden bei Wien. Bis auf ein paar Bettgestelle in den Zimmern und einen Riesentisch mit unzähligen Stühlen im heruntergekommenen ehemaligen Festsaal ist es leer. Der Requisiteur schleppt das Nötigste heran, damit wir die Küche benützen können; wir kochen jeden Abend zusammen, reden und lachen bis in den Morgen. Für Wochen fühle ich mich unbeschwert.
Der Film heißt Fehlschuß und spielt in den Fünfzigerjahren in einer Arbeiterkolonie. Ein Schrotthändler will einen jungen Mann, dargestellt von Wolfgang Ambros, zum Fußballstar machen. Ich spiele die große Liebe des Jungen; sie ist die Rock-’n’-Roll-Königin des kleinen Ortes. Natürlich wird nichts aus der Fußballkarriere, auch nichts aus der großen Liebe. Alle Teammitglieder sind wehmütig, als die Dreharbeiten beendet sind und jeder in einen anderen Teil der Welt zieht.
Jetzt sitze ich im Zug nach Berlin. Ich muss während derganzen Fahrt nur einmal etwas mehrfach machen. Ich fühle mich gut wie lange nicht.
Der neue Film Das Ende der Beherrschung ist eine Liebesgeschichte zwischen einer Sozialarbeiterin und ihrem Zögling, einer siebzehnjährigen aufsässigen Göre, die von mir gespielt wird. Am Ende der Geschichte erschlägt sie den zudringlichen Lebensgefährten ihrer Freundin.
Nach einem langen Drehtag schleppt mich eine Mitarbeiterin des Teams in die Disco Roxy, ein ehemaliges Kino in Kreuzberg. Ein großer junger Mann mit schulterlangen brünetten Haaren steht am anderen Ende des Saals von mir abgewandt auf der Tanzfläche. Ich kann den Blick nicht von seiner Gestalt abwenden. Er dreht sich zu mir um, schaut mich lange an. Dann kommt er auf mich zu und fragt mich nach einer Zigarette. Wir reden die ganze Nacht. Als es zu dämmern beginnt, fahren wir zum Grunewaldsee und gehen dort spazieren. Eine Wildschweinfamilie läuft vor uns quer über den Weg, vorne die Mutter, dann drei Frischlinge. So als hätten sie sich gesagt: Nicht nach rechts und links schauen, vielleicht sehen die uns dann nicht.
Von dieser Nacht an trennen wir uns nicht mehr. Wir fahren im Auto meines Freundes von einem Drehort zum nächsten. Der Innenraum des kleinen Renaults ist vollgestopft mit aufgeblasenen Luftballons. Wir küssen uns, wir lachen, wir singen die Lieder aus dem Kassettenrecorder mit. Er steht immer neben der Kamera, ist immer in
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