Kindermund (German Edition)
Reihe mit dem Rücken zum Publikum das Kleid über den Kopf ziehen und splitternackt über die Bühne rennen, auf ein etwa zwei Meter hohes Portiershäuschen zu, an dem eine Leiter lehnt. Die soll ich hochklettern und mich auf meinen Bruder setzen, der schon dort oben in einem Bett liegt.
Ich kann nicht glauben, was er von mir verlangt. »Nein, das werde ich niemals tun!«, schreie ich. »Ich werde meinen Schlüpfer anbehalten!« Der Regisseur schnauzt, das sei nichts Halbes und nichts Ganzes mit Schlüpfer. Ich fange an zu zittern. Tränen schießen mir in die Augen, in einem Anfall von Zorn stürze ich aus dem Probenraum. Ich renne kopflos durch Flure, hocke mich in eine dunkle Ecke und schluchze hemmungslos.
Wieso kommt der ausgerechnet auf mich? Hat er etwas bemerkt? Sieht man es mir an? Dünste ich es aus? Riecht man es? Ist es mir für immer in die Haut gebrannt? Warum wollte er unbedingt mich für diese Rolle haben? Niemals werde ich das tun! Niemals! Ich hau wieder ab mit dem nächsten Zug.
Sie suchen mich. Sie rufen nach mir. Der Regisseur nimmt mich in den Arm, führt mich zurück. Ich beruhige mich. Er überredet mich.
Die ersten Tage vergehen. Hamburg ist schrecklich, ich friere. Ich stürze mich mit all meiner Phantasie und Energie in die Proben. In der Mittagspause schreibe ich in die vier Textbücher zwischen die Zeilen zu allem Gesprochenen, zu jeder Handlung, jeder Situation die Reaktion des Mädchens. Wenn sie wütend ist, tritt sie so wild in die Pedale ihrer Nähmaschine, bis diese fast in die Luft fliegt. Oder sie bringt den Holzboden zum Beben, weil sie mit ihren nackten Füßen trampelt und stampft, um ihren Willen durchzusetzen. Manchmal schleudert sie auch Gegenstände quer über die Bühne, oder sie wirft sich auf den Boden und trommelt mitden Fäusten, bis sie die Aufmerksamkeit ihrer Brüder erhält. Die Proben dauern bis abends. Ich bin total erschöpft, nehme das nächste Taxi nach Eppendorf und falle in meiner Kammer ins Bett. Ich will nicht mehr denken, will nicht mehr Angst haben vor allem, vor dem Leben, vor dem Tod, vor Gott. Ich lebe in der durchsichtigen Masse, habe wieder Atemnot, spüre weder mich noch andere.
Einmal nimmt mich Marlen mit zu einer Freundin zum Abendessen. Die Tür geht auf. Ich werde von einer Wärme umarmt, wie ich sie noch nie gespürt habe. Diese Katrin ist entweder die Sonne selbst, oder sie hat sie zumindest verschluckt. Das Strahlen will nicht verschwinden aus ihrem Gesicht. Die Wohnung ist klein, vollgestopft und gemütlich. Ich kann mich nicht erinnern, wann mir zum letzten Mal Essen geschmeckt hat. Ich stopfe es in mich hinein, bis ich fast platze. Marlen und ich übernachten bei Katrin. Ich sinke in Berge von Kissen. Am nächsten Morgen dusche ich kniend in der Wanne und beobachte Katrin, wie sie ihre langen schwarzen Haare kämmt. Als sie sich die Lippen knallrot schminkt und ich im Spiegel ihren Blick erhasche, frage ich: »Darf ich heute Abend wiederkommen?« Sie lacht und sagt: »Ja, mein Schatz!«
Von diesem Tag an bleibe ich bei Katrin. Sie und ihre Wohnung sind mein Nest, mein Zuhause. Ohne ihren Beistand hätte ich die täglichen Proben nicht durchgestanden. Die Premiere des ersten Teils wird ein Riesenerfolg. Dennoch verschlimmert sich mein Zustand. Jede Vorstellung ist der Weg zum Schafott. Ich bin mir sicher, dass ich heute, während dieser Vorstellung, tot umfallen werde. Wenn das Stück vorbei ist, stelle ich überrascht fest, dass ich immer noch lebe.
Die anderen Schauspieler treffen sich anschließend in der Kantine zum Essen und Trinken. Ich springe ins Taxi und flüchte zu Katrin. Voller Glück, dass ich nicht gestorben bin, schlüpfe ich mit einem Teller belegter Brote neben sieins Bett, und wir sehen gemeinsam fern. Das sind die einzig schönen Momente in meinem Leben.
Katrin beschwert sich nachts oft, dass sie nicht schlafen kann, dass sie seekrank wird von meinem Gehüpfe: Ich bin schon zum fünfzigsten Mal aus dem Bett gesprungen, auf die Knie gefallen und habe Gott um Vergebung angefleht.
Der Beginn des Tages, der Morgen ist die schlimmste Zeit: Die Angst zu sterben, die Angst vor Bestrafung, die Angst, ich würde durch einen Gedanken jemandem etwas Schlimmes antun, das Glaskugelgefühl quälen mich dann besonders stark. Ich sehne den Abend herbei, die Nacht, wenn ich endlich wieder schlafen darf.
Während der Vorstellungen umsorgt mich eine herzensgute Garderobenfrau. Sie erinnert mich an mein Ömchen. Anscheinend hat
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