Kinderseelen Verstehen
sondern ›Kann ich bitte noch etwas Saft haben?‹« »Lea, für wie dumm hältst du uns eigentlich, wenn du sagst, du wüsstest gar nicht mehr, was wir am Wochenende unternommen haben?« »Lea, heb die Füße hoch und stoße nicht immer mit den Schuhen gegen die Teppichbordüre.«
→ Bedeutungswert
Lea muss in ihrem Elternhaus Tag für Tag die Erfahrung machen, dass vieles, was sie tut, aus Sicht der Eltern nicht in Ordnung ist. Sie hat ganz offensichtlich lernen müssen, dass ihr gesamtes Verhalten unter einer Art »Aufsicht« steht und dabei einer Fehleranalyse unterzogen wird. Früher hatte sie zudem einen leichten Aussprachefehler beim »s«, wo ihr die Zungenspitze immer zwischen die Zähne geraten ist. Das »richtige Aussprechen« haben dann die Eltern mit ihr über Monate anhand von S-Wörtern geübt. Fragt man also in diesen Zusammenhängen, warum Lea offensichtlich kaum hörbar – wenn auch grammatikalisch und in Bezug auf die Aussprache der Wörter völlig korrekt – spricht, ergibt sich schnell folgendes Bild: Das Verhalten ist für alle beobachtbar – und damit kommentierbar. Da sich der Mensch nicht nicht verhalten kann, ist dieser Umstand nicht auflösbar.
Welche Möglichkeit hat Lea nun, einer zusätzlichen Korrektur ihrer ausgesprochenen Gedanken zu entkommen? Indem sie gar nicht oder nur sehr leise spricht. Lea hat sich für die zweite Möglichkeit entschieden. Auch die Aufforderung der Erzieherin, lauter zu sprechen, wird Lea ebenfalls als »Korrektur ihres wieder einmal falschen Verhaltens« verstehen.
→ Praktische Hinweise
Es gibt in der Pädagogik einen wundervollen Grundsatz, der da lautet: »Schwächen werden dadurch geschwächt, indem die Stärken gestärkt werden.« Lea braucht keine Kommentare zu dem, was sie aus Sicht der Erwachsenen nicht ganz richtig gemacht hat oder besser anders machen sollte. Was Lea bräuchte, sind eindeutig positive Unterstützungen!
Zum Beispiel könnte man zu Lea sagen: »Es gibt manche Menschen, die schreien beim Sprechen so laut, dass man sich am liebsten die Ohren zuhalten würde. Du sprichst angenehm leise – da muss man ganz genau zuhören und selbst leise sein.« Oder: »Wenn man so wunderbar leise spricht wie du, Lea, dann muss man ganz nahe zusammenkommen. Das ist wie bei Freunden, die sich mögen.« Wenn Lea allein spielt, sollte man nicht sagen: »Willst du nicht lieber zu den anderen Kindern gehen und mit ihnen zusammenspielen?«, sondern: »Wenn man allein spielt, dann hat man seine Ruhe. Es gibt keinen Streit und man hat genau die Spielsachen, die man gerade braucht. Das tut gut.« Wenn Lea alleine, verträumt aus dem Fenster schaut, sollte man nicht sagen: »Willst du nicht zu uns herüberkommen? Dann kannst du bei ... mitmachen«, sondern: »Wenn du jetzt aus dem Fenster guckst, siehst du sicherlich ganz viele Sachen, die wir nicht sehen können. Alles da draußen zu beobachten ist bestimmt spannend.«
»Ich schreie, wenn es mir passt« – Kinderbedürfnisse werden sonst nicht wahrgenommen
Tim, gerade sechs Jahre alt geworden, ist an keinem Ort zu überhören – ob auf dem Spielplatz, beim Einkaufen mit den Eltern in der Stadt, beim Frühstück, Mittag- oder Abendessen, im Kindergarten beim Spielen, im Werkraum, auf dem Außenspielgelände, im Garten der Eltern oder beim Erzählen von Tageserlebnissen. Tims Stimme übertönt jeden und alles, so als habe er vor seinem Mund ein Megafon fest angebaut. Die Aufforderungen der Eltern und ErzieherInnen, er möge nicht so schreien, nimmt er nur kurz zur Kenntnis, unterbricht sein Reden für den Bruchteil einer Sekunde und fällt dann wieder in sein lautstarkes Sprechmuster. Fehlt der Junge mal im Kindergarten, registrieren auch Kolleginnen aus anderen Gruppen diesen Umstand sofort und fragen Tims Erzieherin: »Sag mal, ist Tim heute nicht gekommen?«
→ Der entscheidende Ausschnitt aus dem biografischen Hintergrund
Tim wächst in einer Familie auf, in der »das Gesetz des Stärkeren, des Machtinhabers« vorherrscht. Die familiäre Situation und der familiäre Alltag sind durch sehr viel Unruhe und fehlende Strukturen charakterisiert. Beide Elternteile halten sich tagsüber zu Hause auf, ein gemeinsames morgendliches Aufstehen sowie ein regelmäßiges gemeinsames Frühstück gibt es nicht. Meist bringt der ältere Bruder auf seinem Schulweg Tim zum Kindergarten. Manchmal wird schon die Weckzeit am Morgen verschlafen. Die Eltern sind in ihrer Lebensgestaltung sehr stark auf sich selbst
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