Kinderseelen Verstehen
Feuerlappen vom Dach des Hauses und belegt es dann mit schwarzen Stoffstreifen. »Das sind nun die verbrannten Reste vom Dach«, meint der Junge und beschreibt, »dass es höchste Zeit war, dass endlich die Feuerwehr gekommen ist. Sonst wäre doch tatsächlich das ganze Haus abgebrannt.«
Wenn Maximilian im Haus Feuerzeuge findet, nimmt er diese an sich, geht zu seiner Mutter und sagt: »Wenn man damit nicht vorsichtig umgeht, kann ganz schnell das Haus abbrennen und dabei können sogar Menschen sterben.« Und wenn der Kamin im Wohnzimmer oder der Grill im Garten entzündet wird, hüpft er ganz aufgeregt hin und her und bittet die Eltern, selbst das Feuer anmachen zu dürfen. Anschließend sitzt er ganz angespannt vor dem Feuer und starrt in die Flammen. Immer wieder möchte er Holz bzw. Holzkohle nachlegen, »damit das Feuer ja nicht ausgeht«, und ist besonders von den springenden Funken fasziniert. Besonders zu Silvester will er möglichst hoch fliegende und hell leuchtende Kracher haben, die er mit hochrotem Gesicht während ihres Fluges verfolgt.
→ Der entscheidende Ausschnitt aus dem biografischen Hintergrund
Maximilian ist ein durch und durch aufgeweckter Junge, der gerne in den Kindergarten ging, in der 1. Klasse sehr gut mitarbeitet und auch zu Hause den Eltern kaum Schwierigkeiten bereitet. »Eigentlich ist er ein unauffälliges Kind« – diese Ansicht äußern sowohl die Eltern als auch die damaligen Erzieherinnen und jetzigen Lehrerinnen. Allerdings zeigt sich bei genauerer Betrachtung von Maximilians Verhalten, dass er zwar lebendig und sehr neugierig die Welt erforscht, sich gerne in der freien Natur aufhält und sehr selbstständig ist, aber gleichzeitig auch Rückzugstendenzen zeigt, wenn es irgendwo irgendwelche Konflikte gibt. Streiten sich Kinder, schaut er aus sicherer Entfernung zu, und schimpfen Erwachsene mit anderen Kindern, versteckt er sich schnell.
Zu Hause herrscht eine permanent angespannte Atmosphäre. Die Eltern kommen nicht wirklich gut miteinander aus, es gibt viel Streit zwischen den Ehepartnern (wegen der ständig engen Finanzlage, wegen der Überschuldung durch den Hauskauf, wegen der Einkaufsfreude der Ehefrau, nicht selten auch wegen der »richtigen« Erziehung des Sohnes), und dann kann es vorkommen, dass Maximilians Eltern oft ein paar Tage nur das Nötigste miteinander besprechen. Maximilian spürt diesen atmosphärischen Druck, der immer im Haus vorherrscht. Selten wird der Streit zwischen den Partnern lautstark ausgefochten. Vielmehr sind es zynische, abwertende und gleichzeitig leise Töne, die wie nicht entzündetes Dynamit vom einen zum anderen geworfen werden.
→ Bedeutungswert
Das Feuer besitzt eine Doppelbotschaft. Auf der einen Seite schenkt es Wärme und Licht und vertreibt die Dunkelheit, auf der anderen Seite hat es auch zerstörerische Kraft, die – wenn wir zum Beispiel an das Abbrennen einer vertrockneten Steppenlandschaft denken – allerdings auch wiederum die Grundlage für neues Leben (Wachstum) bildet. Das Gemeinsame all dieser Bedeutungen kann darin gesehen werden, dass das Feuer sowohl von Sorgen befreien als auch Sorgen bereiten kann. Menschen, die von Sorgen gequält oder mit Sorgen belastet sind, sehen im Feuer eine Art der Befreiung.
Übertragen wir diesen grundsätzlichen Bedeutungswert auf Maximilian, dann
bereitet ihm der ständig schwelende Streit zwischen seinen Eltern Sorgen;
ist er darüber besorgt, ob sich die Eltern vielleicht trennen (während der therapeutischen Arbeit sagt Maximilian einmal: »Weißt du, das Schlimmste wäre, wenn meine Eltern sich trennen. Dann habe ich nicht mehr meinen Papa, und den brauche ich besonders.«);
sorgt er sich, ob sie alle aus dem Haus wieder ausziehen müssen, weil die Schuldenlast so hoch ist (dieses Thema ist fast jeden Abend am Abendbrottisch aktuell).
→ Praktische Hinweise
Maximilian braucht – wie die gesamte Familie – eine zunehmend entspannte(re) häusliche Atmosphäre. Der Junge hat das Gefühl, dass mehrere Damoklesschwerter über seinem Kopf schweben, und er leidet unter den vielen Ungewissheiten, die ihn gedanklich und emotional in Atem halten. Dadurch kann sich Maximilian zu keinem Zeitpunkt wirklich entspannen, was sich auch in der Schule in Form leichter Konzentrationsschwierigkeiten langsam anzubahnen scheint. Verständlich wird auch, dass er sich aus Konflikten immer heraushält (und sich sogar vor ihnen versteckt), denn Konflikte kennt er von zu Hause zur Genüge. Dieser
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