Kinderseelen Verstehen
Erfahrungswert muss nicht noch größer werden.
Psychosomatik
»Mir ist so schlecht« – Kinder leiden unter belastenden Erlebnissen
Selim ist acht Jahre alt und klagt mindestens zweimal in der Woche über heftige Bauchschmerzen und ein starkes Völlegefühl. Meist treten die Magenschmerzen – gekoppelt mit Durchfall – und das Gefühl, sich übergeben zu müssen, am Abend auf, nachdem die Schultasche für den nächsten Morgen gepackt wurde. Und morgens wiederholt sich dann das gesundheitliche Drama. Es kommt vor, dass Selim sich schon vor dem Frühstück übergibt und darum bittet, zu Hause bleiben zu dürfen. Doch da die Eltern beide berufstätig sind, können sie die Wunschvorstellung ihres Sohnes nicht erfüllen. Der Vater fährt ihn mit dem Auto zur Schule, sucht ein kurzes Gespräch mit der Lehrerin, informiert sie über Selims Gesundheitszustand und setzt dann seinen Weg zur Arbeitsstätte fort.
Organische Ursachen für dieses Krankheitsbild liegen keine vor. Regelmäßige Arztbesuche bleiben stets ohne Befund.
Fast haben sich die Eltern an die körperliche Verfassung ihres Sohnes gewöhnt. Sie sind darüber nicht (mehr) sonderlich beunruhigt. Allerdings stellt es für sie schon eine gleichbleibende Belastung dar bezüglich der Umstände, die mit den körperlichen Irritationen des Sohnes zu tun haben. Auch in der Schule hat Selim seinen Ruf als kränkelndes Kind weg. LehrerInnen, die Selim auf dem Schulweg oder im Schulgebäude treffen, reduzieren ihren Small Talk meist auf sein körperliches Befinden. So sind beispielsweise immer wieder solche typischen Äußerungen zu hören: »Na, Selim, geht es dir heute wieder besser?« oder: »Nun, Selim, ist es heute mit den Bauchschmerzen wieder etwas schlimmer?«
→ Der entscheidende Ausschnitt aus dem biografischen Hintergrund
Selim hat zwei jüngere Zwillingsbrüder (fünf Jahre alt) und eine ältere Schwester (15 Jahre alt). Die Tochter bereitet den Eltern große Sorgen, weil sie einen Lebenswandel führt, den die Eltern aus ihrem Lebensverständnis heraus nicht gutheißen können. Sie trifft sich viel mit Freundinnen, vernachlässigt (nach Einschätzung der Eltern) die Schule, legt größten Wert auf eine topaktuelle, modische Kleidung und lässt sich von ihren Eltern kaum noch etwas sagen. Tägliche Konflikte gehören zur Tagesordnung. Die beiden jüngeren Zwillinge »stellen viel Unfug an«, streiten viel miteinander, und mindestens einmal in der Woche kommen Anrufe aus dem Kindergarten, dass es wiederholt zu Verhaltensschwierigkeiten gekommen sei. Regeln haben für die Jüngsten nur eine sehr eingeschränkte Bedeutung und ihre Lebendigkeit lässt sie »über Tische und Bänke springen«. Vater und Mutter fühlen sich mit der Erziehung ihrer vier Kinder häufig überfordert.
Doch da gibt es wenigstens Selim. Der schlanke, eher ruhig und besonnen wirkende Junge ist der ganze Stolz der Familie. Die Lehrerin äußert sich bei jedem Elternsprechtag stets sehr lobend über Selims Verhalten und auch seine Leistungen, auch wenn er in der letzten Zeit immer ruhiger geworden ist. Stellt sie Selim eine Frage, kommt die richtige Antwort »wie aus der Pistole geschossen«, doch von alleine meldet er sich kaum noch. Jede kritische Anmerkung der Lehrerin bringt die Eltern aus dem Gleichgewicht. Sollte er vielleicht auch als Vierter im Bunde Schwierigkeiten machen? Das wollen sich die Eltern gar nicht vorstellen. Und so verstärken sie ihre täglich formulierten Ansprüche an ihren Sohn: »Du bist doch so ein guter Schüler. Achte darauf, dass du keine Fehler machst.« »Wenn du weiterhin so gut in der Schule bleibst, wird einer Gymnasialempfehlung sicherlich nichts im Wege stehen. Dann wärst du der Erste in der Familie, der eine Oberschule besucht.« »Wenn wir dich nicht hätten! Du machst uns immer wieder Freude mit deinen guten Noten und deinem guten Verhalten. Auf dich sind wir besonders stolz.« »Lass in deinem Fleiß für die Schule und deinem Ehrgeiz nicht nach. Dann bleibst du weiterhin an der Spitze.«
→ Bedeutungswert
Wenn der Magen rebelliert, dann drückt es in der ganzen Bauchgegend. Und genau hier offenbart die Sprache mit den beiden Verben »rebellieren« und »drücken« das Problem: Magendruck und ein Völlegefühl sind – wie auch im Beispiel mit Selim – das Ergebnis einer lang anhaltenden Drucksituation, der sich ein Mensch ausgesetzt fühlt. Druck durch Überforderung – das schlägt den Menschen auf den Magen.
Selim sieht sich einer
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