Kinderstation
… oder … oder.«
Aus dem Vorbereitungsraum trat eine Schwester. Philipp Lehmmacher machte einen Sprung zur Tür und riß sie auf.
»Was ist los?« brüllte er.
»Ruhe!« Die Schwester winkte ab. »Warum schreien Sie?«
»Sind es Ihre oder meine Kinder?« schrie Lehmmacher zurück. Es war eine dumme Frage, denn die Schwester war eine Ordensfrau. Sie kam jetzt näher und drängte Lehmmacher mit einer verwunderlichen Kraft in das Wartezimmer zurück.
»Die Operation ist zu Ende«, sagte sie. »Es ist bis jetzt alles normal verlaufen.«
»Normal …«, stammelte Erna. »Heißt das, daß sie … sie leben …?«
Die Schwester nickte. Noch, dachte sie. Aber wir alle können nicht sagen, wie lange. Ihr Kreislauf ist besorgniserregend.
»Sie leben«, sagte Philipp Lehmmacher und stützte sich auf die Sessellehne. »Es ist gelungen?«
»Ja. Sie haben jetzt zwei selbständige Kinder.«
Erna sagte nichts mehr. Sie verließ stumm das Wartezimmer und ging langsam zu einer Christusfigur, die in einer Nische der Wand stand und immer mit frischen Blumen geschmückt wurde. Dort sank sie auf die Knie, faltete die Hände, senkte das Haupt und betete still. Philipp Lehmmacher stand unschlüssig herum, atmete leise, um die Ordensfrau nicht mit seinem Alkoholdunst anzuhauchen, und zog nervös an seinem Schlips.
»Wann kann ich meine Kinder sehen?« fragte er endlich.
»Ich glaube, heute nicht mehr. Sie kommen nach der Operation sofort in ein Sauerstoffzelt. Morgen vielleicht …«
»Warum haben wir dann gewartet?« stotterte Lehmmacher. »Ich will doch sehen, wie sie auseinander sind –«
»Das wird der Herr Professor entscheiden.«
Die Schwester nickte und verließ das Wartezimmer.
Erna Lehmmacher kniete noch immer vor der Christusstatue und betete. Philipp Lehmmacher tastete seine Taschen ab. Beide Pullen leer, dachte er. Und gerade jetzt hätte ich einen nötig.
Sie sind getrennt. Sie leben. Ich habe Vierlinge, davon zwei getrennte Siamesen. Ich bin eine Sensation. Es wird Geld regnen.
Herrgott, wenn ich jetzt einen Schnaps hätte –
Im Operationsraum war die letzte Phase abgeschlossen.
Nach der endgültigen Durchtrennung, die nach den vollendeten Anastomosen nur eine Kleinigkeit war, waren die Schädellücken mit den Plastikhirnschalen gedeckt worden. Da für beide Kinder die Kopfschwarte noch transplaniert werden mußte, wurde die Wunde nach Einstäuben mit Penicillinpuder und Verkleben der Nähte mit einer Antibiotikaplastikmasse mit Kompressen abgedeckt und dann verbunden. Die letzten Handgriffe überließ Dr. Julius den anderen Ärzten, die unter Leitung Dr. Wollenreiters das erste Operationsteam am Tisch ablösten.
Mit steifen Beinen ging Dr. Julius aus dem OP in den Vorbereitungs- und Waschraum, und erst dort sank er kraftlos auf einen Stuhl und legte den Kopf weit zurück. Eine Schwester riß ihm das Mundtuch und die Kappe ab. Entsetzt sahen Prof. Karchow und Prof. Hahnel, daß Julius' Gesicht verzerrt und fahlbleich war. Der Mund stand offen, als sei er in einem Schrei erstarrt.
»Das war ja Selbstmord«, rief Karchow und riß Julius Schürze und Kittel ab. Die durchgeschwitzten Bandagen um die nackte Brust waren etwas verrutscht. Am Pulsieren der Halsschlagader konnte man sehen, wie stark die innere Erregung war.
»Einen Wagen«, schrie Prof. Karchow die herumstehenden Schwestern an. »Hätte ich das vorher gewußt …«
Prof. Hahnel fühlte den Puls Dr. Julius'. Es schien, als sei Julius in einem Schwebezustand zwischen Besinnungslosigkeit und Klarheit.
»Ich habe heute das Wundern gelernt, Karchow«, sagte er leise, als sich dieser neben ihm über den Oberarzt beugte. »Man schimpft heute soviel über die jungen Ärzte und ihre Schnoddrigkeit. Mir ist um unsere Medizin nicht bange, solange wir einige Juliusse haben –«
Der Wagen wurde hereingeschoben, Karchow, Hahnel und zwei Schwestern hoben Dr. Julius darauf und deckten ihn zu.
So kam es, daß aus den sich automatisch und mit einem Sauglaut wieder öffnenden OP-Türen nicht die beiden getrennten Zwillinge herausgerollt wurden, sondern zuerst der Arzt, der sie operiert hatte.
Mit aufgerissenen Augen starrten Erna und Philipp Lehmmacher dem Rollbett nach, bis es durch die Milchglastür verschwand. Sie verstanden überhaupt nichts mehr.
»Das war doch der Oberarzt …«, stammelte Erna.
»Und er sah wie tot aus.« Philipp strich sich über die Augen. »Das ist ja 'n Ding …«, sagte er hilflos. »Das ist ja 'n Ding! Wenn schon die
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