Kindersucher - Kriminalroman
recht harmlos aussahen, aber das galt auch für mehr als einen Mörder, den er verfolgt hatte.
»Was passiert, wenn sie einen Menschen infizieren?«
»Übelkeit, Erbrechen, Durchfall. In ernsten Fällen ... Fieber. Im schlimmsten Fall Fieberkrämpfe. All das haben wir in den letzten zehn Tagen zu sehen bekommen.«
»Zehn?« Kraus hob den Kopf vom Okular. Frau Doktor lächelte ihn etwas gequält an. »Wie kann das sein? Die ersten Berichte sind erst gestern hereingekommen.«
»Wir melden nichts, was wir nicht sicher wissen.« Ihr Lächeln erlosch. »Sonst gäbe es eine Massenhysterie. Sie sehen ja, wie schlimm es jetzt schon aussieht, Herr Kriminalsekretär.« Ihre Stimme schwoll autoritär an. »Wie viele andere Bakterien sind auch Listeria allgegenwärtig. Der Hauptinfektionsweg verläuft über Nahrungsmittel. Aber die Ursache könnte alles möglichesein, angefangen von Gemüse über Fleisch, Geflügel, Fisch oder Milchprodukten. Wir haben zehn Tage gebraucht, bis wir diese Wurst als Quelle ausfindig gemacht haben.« Sie umklammerte ihr Klemmbrett. »Wir konnten schließlich nicht die ganze Stadt so sehr in Angst und Schrecken versetzen, dass keiner mehr etwas zu essen wagt.«
Dem musste Kraus zustimmen. Vor allem, da dies eine Frau sagte, die es gegen alle Widrigkeiten geschafft hatte, die Karriereleiter bis dorthin hochzusteigen, wo sie sich jetzt befand. Denn die Zahl von Ärztinnen in Berlin war ausgesprochen gering. Und Dr. Riegler war klug und gebildet. Woher kam dann also dieser nervöse Tick? »Wegen der Vielzahl der Todesfälle«, sagte sie, und Kraus registrierte, dass unter ihrem linken Auge ein Muskel zuckte, wie eins dieser kleinen Bakterien unter dem Mikroskop, »muss wohl auch die Möglichkeit einer kriminellen Absicht in Betracht gezogen werden.«
Offensichtlich stand sie unter großem Stress, weil die ganze Stadt sich auf sie verließ und sie jetzt auch noch die Kriminalpolizei am Hals hatte. Aber auf der Universität hatte Kraus in einem Kurs über Physiologie und Psychologie gelernt, dass unwillkürliche Muskelkontraktionen manchmal verrieten, was der Mund sich weigerte auszusprechen. Jetzt fragte er sich unwillkürlich, was der Mund der Frau Doktor so dringend verschweigen wollte.
Warum grinste Winkelmann denn so?
»Da sich jetzt die Kriminalpolizei der Sache angenommen hat«, er hob sein Glas in Richtung Kraus, »darf man wohl sicher sein, dass der Fall der vergifteten Wurst schnell gelöst werden wird.«
»Hört, hört.« Die anderen prosteten ihm zu. »Auf die Kriminalpolizei!«
Kraus hob ebenfalls sein Glas und hoffte, dass sein Nachbar recht hatte.Winkelmann war der größte Bewunderer von Kraus, natürlich. Er gab gern damit an, dass er Kraus’ Karriere von seiner Zeit als Grünschnabel auf der Polizeischule bis zu seiner Arbeit als erfahrener Kriminalbeamter im Präsidium am Alex verfolgt hatte. Und das alles in nur sieben Jahren. Kraus fühlte sich dann immer verpflichtet, seinen Nachbarn daran zu erinnern, dass Winkelmann in derselben Zeit von einem einfachen Lagerarbeiter zum Besitzer eines Papier- und Schreibwarenladens aufgestiegen war. Nur wirkte Kraus’ Karriere im Vergleich dazu wahrhaft abenteuerlich, und gewisse Episoden daraus zum Besten zu geben war angesichts eines so verzückten Publikums nicht gerade unangenehm. Winkelmanns Augen traten hervor, wenn Kraus berichtete, wie er auf den Wasserturm am Prenzlauer Berg steigen musste, um die Drahtzieher eines Menschenhändlerrings zu fangen. Oder wie er sich in einem Speiseaufzug versteckt hatte, um den Mietskasernenmörder von Neukölln auszuspionieren. Selbst Kraus’ Jungs lauschten seinen Geschichten nicht mit einer solchen Intensität. Vicki wollte sie sowieso nie hören. Sie war stolz auf seinen Ruf, aber der rein physische Aspekt seines Berufs machte ihr Angst. Manchmal hatte Kraus den Eindruck, sie täte lieber so, als wäre er Abteilungsleiter im Kaufhaus Tietz oder so etwas ähnliches. Wie hatte Freud das noch gleich genannt ...?
»Elsie, ich breche dir jeden gottverdammten Knochen in deinem ...!«
Von oben bis unten staubig vom Spiel, waren die Kinder wieder in die Wohnung zurückgeschlichen. Vom Balkon aus war sehr gut zu sehen, wie die zwölfjährige Tochter der Klempers im Wohnzimmer ein Rad schlug und dabei mit den Füßen haarscharf an der Vitrine vorbeiflog, in der Irmgard Winkelmanns Figürchen aus Meißner Porzellan verwahrt wurden. Nach Klempers Drohung huschte das Kind hastig wie ein Eichhörnchen
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