Kindersucher - Kriminalroman
schlechter werden, Dr. Weiß. Ganzgleich, wer ich bin oder was ich tue, die Männer in meiner Abteilung sehen in mir nur eines: einen Juden mit einer großen Nase. Sie, Dr. Weiß, haben sich noch nie für mich eingesetzt, aber trotzdem könnten Sie niemanden dort, einschließlich Kommissar Horthstaler, davon überzeugen, dass meine ganze Karriere nicht von Ihnen vorangetrieben wurde.«
Der Polizeivizepräsident kniff die Lippen zusammen und stieß einen langen, leisen Seufzer aus. »Selbst wenn ich es für angemessen hielte, könnte ich mich gar nicht einmischen, Willi. Ich stehe selbst ein wenig unter Druck.«
Kraus starrte ihn an, während sich ihm die Kehle zusammenschnürte. Dann verstand er plötzlich, und es war wie ein Schlag ins Gesicht. Weiß war einer der prominentesten Juden in der gesamten Beamtenschaft und stand unter dem Beschuss glühender Antisemiten. Er konnte sich auf keinen Fall auch nur den kleinsten Skandal leisten, bei dem es um jüdische Vetternwirtschaft ging. Kraus wurde rot vor Scham, weil er so egoistisch gewesen war. Zum Teufel mit dieser heidnischen Welt, fluchte er innerlich. Wie konnte sie Weiß und ihn in eine solche Lage bringen?
»Mir ist klar, dass es frustrierend ist, Willi. Mehr als frustrierend.« Der sanfte Blick aus den dunklen Augen des Doktors ruhte fast liebevoll auf ihm. »Es ist geradezu erniedrigend, deprimierend. Sie sind Polizist geworden, weil Sie an Gerechtigkeit glaubten, und treffen jetzt an jeder Ecke auf Ungerechtigkeiten. Aber eine Leidenschaft für das, was richtig ist, ist nicht die einzige Tugend, die ein guter Polizeibeamter besitzen muss. Er braucht Geduld. Weisheit. Einen Sinn für den größeren Zusammenhang. Und ein starkes Verantwortungsgefühl.«
DREI
»Verantwortung«, Otto Winkelmann paffte stolz an seiner Pfeife, »ist das grundlegendste Überlebensrezept der Natur. Heinz’ Geburtstagsgeschenk wird ihm helfen, zu lernen, was dieses Wort wirklich bedeutet.«
Kraus hatte bereits einiges darüber zu hören bekommen, als er zuvor von der Arbeit nach Hause gekommen war. Stefan und Erich hatten sich auf ihn gestürzt und ihm damit in den Ohren gelegen, dass Winkelmanns ihrem Sohn ein Zehnliter-Aquarium zum Geburtstag geschenkt hatten, mit ganz vielen Guppys. »Können wir nicht auch so eines bekommen?«, hatten sie gejammert. Jetzt, beim Abendessen, erfuhr Kraus, dass Heinz, kurz nachdem das Aquarium aufgebaut worden war, auch eine Lektion über Schmetterlinge und Blumen und Bienen bekommen hatte, in gewisser Weise jedenfalls. Denn in nur wenigen Minuten hatte einer dieser Guppys seinen dicken Bauch verloren und war spindeldürr geworden. Dafür schossen ein Dutzend silbrig glänzender Pfeile im Wasser herum.
»Kann das denn wirklich stimmen?«, fragte Ottos Schwägerin ungläubig ihren Ehemann. »Legen Fische denn keine Eier?«
»So, es geht lo-hos!«. Frau Winkelmann stürmte durch die Terrassentür, praktisch unsichtbar hinter den dampfenden Serviertellern.
Die Gäste am Tisch nahmen Haltung an und verliehen ihrer Begeisterung lautstark Ausdruck.
Zu Ehren von Heinzis Geburtstag ließ sie den wenigen Auserwählten – als da wären Vicki, Kraus und ihre Verwandten, die Klempers – das exklusive Vergnügen ihrer scharf gewürzten Rippchen zuteil werden.
Unwillkürlich fühlte sich Kraus in die Gruppentrance hineingezogen, als seine Nachbarin das Tablett abstellte. Er hatte zwar nach dem Mittagessen im Präsidium nicht allzu viel Appetit, aber einige Rituale waren zu verführerisch, um ihnen zu widerstehen.
»Du bist wahrhaftig ein Meisterkoch, Irmgard.« Vicki applaudierte, als wäre es die Premiere in der Oper. »Niemand würzt Rippchen so wie du.«
Ihrem Gastgeber Otto Winkelmann fiel dazu noch etwas Denkwürdigeres ein. »Wisst ihr noch, wie oft wir von einer solchen Mahlzeit nur träumen konnten? Erst während des Krieges, dann während der Revolution und dann ...«
»Also wirklich, Otto«, platzte seine Schwägerin heraus. »Warum musst du immer an solchen Dingen rühren? Ich mag nicht einmal daran denken.« Frau Klemper legte ihre dicken Finger auf ihren Busen und schnüffelte an dem Fleisch. »Ich weigere mich schlicht, jemals wieder an diese schrecklichen Zeiten zurückzudenken.«
»Das ist idiotisch, Magda.« Ihr Ehemann verdrehte die Augen, als hätte sie etwas zutiefst Peinliches von sich gegeben. »Erinnerung ist das Einzige, was uns vor dem Vergessen bewahrt. Stimmt doch, Otto, oder?« Felix Klemper stopfte sich eine
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