Kindersucher
vertraute immer noch darauf, dass das Deutschland von morgen für seine Söhne besser sein würde als das, in dem er selbst aufgewachsen war.
Draußen fielen die ersten großen Schneeflocken auf den geschäftigen Wittenbergplatz. Als sie in die Straßenbahn stiegen, schneite es bereits heftig. Die Kinder hatten ihre jüngste Begegnung mit dem Antisemitismus offenbar bereits wieder vergessen und freuten sich über dieses unerwartete Wetter. »Bauen wir im Hof einen Schneemann mit Heinz!« Erich umklammerte die Schachtel mit seinem Geschenk. Stefan hüpfte aufgeregt auf Kraus’ Schoß. Als sie um die Kaiser-Wilhelm-Kirche ratterten, wurden die Trottoirs allmählich weiß.
Kraus las auf dem Titelblatt der Zeitung eines Mannes ihm gegenüber, dass die Firma von Kleist-Rosenthaler ankündigte, ihr Werk zu schließen. Das war nicht sonderlich überraschend. Dennoch war keine Anklage wegen einer Straftat erhoben worden. Sein Bericht war erst nach den Feiertagen fällig, und er hatte immer noch Fragen, vor allem jetzt, nach Heilbutts Andeutungen. Dann würde die Mordkommission eine Empfehlung aussprechen. Letztlich lag die Entscheidung beim Büro des Staatsanwaltes. Doch nach so vielen Toten und Erkrankten würde niemand, der bei Verstand war, mit dieser Firma weiter Geschäfte machen. Als Nächstes würde vermutlich die Strohmeyer A. G. aufgeben. Bis dahin würde das Strafverfahren Gott weiß wie lange weitergehen, und solange waren ihm die Hände gebunden.
Kraus seufzte. Am anderen Ende vom Ku’damm sah er den gigantischen Funkturm über Wilmersdorf, dessen einsames Positionslicht durch den Schnee leuchtete. Er hatte sich schon lange nicht mehr so frustriert gefühlt wegen seiner Arbeit. Eigentlich nicht mehr, seit er in den Polizeidienst eingetreten war. Vielleicht machte er es deshalb ... mischte sich deswegen erneut in Freksas Fall. Und zwar noch heute Abend. Nach dem Essen. Nur eine kleine Erkundung. Er hatte am Nachmittag bemerkt, dass Freksa beim gemeinsamen Mittagessen der Abteilung nicht wie üblich herumgeprahlt hatte. Er war ruhig gewesen, fast in sich gekehrt. Ganz offenbar kam der Star mit der Untersuchung des Knochensacks aus Lichtenberg nicht weiter. Der Kommissar, der sein Interesse an dem Fall bemerkt hatte, hatte ihn nach dem Essen kurz beiseitegenommen.
»Träumen Sie nicht mal davon, wieder in diesen Fall einzusteigen, Kraus. Freksa macht seine Sache gut.«
Nach dem Essen in der Beckmannstraße, als genug Schnee im Hof lag, dass die Jungs ihren Schneemann bauen konnten, tranken Kraus und Vicki in Ruhe im Esszimmer einen Kaffee. Vicki wirkte so elegant in ihrem kurzen Kleid, dem kurzen Haar und den langen, herunterbaumelnden Ohrringen. Kraus fand, dass sie eigentlich auf einem Plakat am Potsdamer Platz abgebildet sein und für Seidenstrümpfe Werbung machen müsste.
»Ich weiß, ich weiß.« Sie versuchte, ihm zuvorzukommen. »Du bist ein halbes Dutzend Mal im Niemandsland gewesen, Willi. Hast Wochen hinter den feindlichen Linien verbracht. Aber, ehrlich, eine spirituelle Mission?«
Sie strich den dunklen Pony zur Seite und runzelte die Stirn, wie sie es oft tat, wenn sie mit den eher härteren Facetten seiner Arbeit konfrontiert wurde. Als wollte sie sagen: Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn du in die Firma meines Vaters eingetreten wärest.
Sie wussten beide, dass das Unsinn war. Hätte er das getan, hätte sie ihn niemals geheiratet.
»Ich will da ja nicht Mitglied werden, Liebling.« Er hatte Braunschweigs Beschreibung ein bisschen entschärft. Nie im Leben würde er ihr sagen, dass es sich um einen »satanischen Liebeskult« handelte. Er beugte sich vor, küsste sie auf den Mund und spielte mit seiner Zunge zwischen ihren Lippen. »Ich schnüffle nur ein bisschen herum.«
Ihm war klar, dass es ihr überhaupt nicht gefallen würde, wenn sie herausfand, was er wirklich vorhatte. Sie hatte mehr als einmal unmissverständlich klargemacht, dass sie ihre Augen vor den Gefahren seines Berufs verschließen konnte, solange er niemals ihre Kinder in Gefahr brachte. Jetzt jedoch verfolgte er plötzlich einen Kindermörder.
Es schneite immer noch, als er eine Stunde später an der Uhlandstraße aus der U-Bahn stieg. Straßenfeger in braunen Uniformen kehrten die Bürgersteige mit riesigen Besen. Auf dem Ku’damm drängten sich die Menschenmassen unter ihren Regenschirmen. Die Bleibtreustraße 143 entpuppte sich als Jugendstilvilla, deren marmorne Stufen zu einem Säulenvorbau führten, der
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