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Kindersucher

Kindersucher

Titel: Kindersucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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so kompliziert. Drei Flügel. ›Für Jungen ab zwölf Jahren‹«, las sie von der Schachtel ab.
    »Ich bin noch nicht ganz neun, aber ich möchte es trotzdem versuchen.«
    »Wirklich?« Sie warf Kraus einen vielsagenden Blick zu. »Und der Nikolaus erlaubt, dass du dir dein Spielzeug selbst aussuchst?«
    »Wir glauben nicht an den Nikolaus, meine Dame. Wir feiern Hanukkah.«
    Sie kniff die Augen zusammen. »Nun sag mal ... ein jüdischer Junge will das Flugzeug des Roten Barons.« Offenbar empfand sie keinerlei Skrupel fortzufahren: »Und dabei hat dein Volk im Krieg gegen Deutschland gekämpft.«
    Erich sah die Frau stirnrunzelnd an, als fände er sie vollkommen lächerlich. Kraus war nicht nur über ihre Ahnungslosigkeit erstaunt, sondern auch über ihre Frechheit.
    »Geh und pass auf Stefan auf, bevor er sich verirrt«, befahl er seinem Ältesten und drehte sich dann zu der Verkäuferin herum. Er hielt ihr seinen Veteranenausweis unter die Nase. »Jetzt hören Sie mir mal zu, meine Dame. Zufällig bin ich Träger des Eisernen Kreuzes Erster Klasse. Falls Sie keinen Ärger mit dem Veteranenverband bekommen wollen, schlage ich vor, Sie verkneifen sich Ihre Kommentare und packen das Flugzeug ein.«
    Während sie, rot vor Verlegenheit, gehorchte, stand er da und kochte vor Wut. Wie konnte sie es wagen? Schon seit Römerzeiten hatten Juden in diesem Land gelebt und über tausend Jahre lang in fortgeschrittenen Gemeinden am Rhein, in Worms, Mainz und Köln ihren Wohlstand aufgebaut, bis die Horden des Ersten Kreuzzugs in das Land eingefallen und die Synagogen in Worms, Mainz und Köln verbrannt hatten, mitsamt der Gläubigen darin. Danach wurden die deutschen Juden gezwungen, in schmutzigen Gettos zu leben, und wurden nachts hinter Mauern eingesperrt. Siebenhundert Jahre lang waren sie den Launen der Mächtigen unterworfen, wurden verfolgt, gefoltert und aus der Heimat vertrieben. Während der Aufklärung begannen die Mauern der Gettos zu bröckeln, wenn auch nur sehr langsam.
    Erst 1871, als Deutschland sich endlich zu einem Nationalstaat vereinigte, wurden alle Einschränkungen der bürgerlichen und politischen Rechte der Juden aufgehoben. Dennoch beendete diese rechtliche Emanzipation die Diskriminierung nicht. Selbst heute noch, im Jahr 1929, trennten zwar keine Ziegelmauern, ganz sicher jedoch gläserne Barrieren die meisten Deutschen von ihren jüdischen Nachbarn. Juden mieden viele Bereiche der Gesellschaft, zum Beispiel den Gesetzesvollzug. Von den etlichen tausend Beschäftigten im Polizeipräsidium waren nur eine Handvoll Juden. Auch wenn einer von ihnen Dr. Weiß war, der Polizeivizepräsident. Und obwohl Massengewalt und Regierungspogrome gegen Juden offenbar der Vergangenheit angehörten, war schon zu Kraus’ Lebzeiten vereinzelt widerwärtiger politischer Antisemitismus in Deutschland aufgeflammt.
    »Danke, dass Sie im Kaufhaus des Westens eingekauft haben.« Die Verkäuferin reichte ihm die als Geschenk verpackte Schachtel ohne den Hauch eines Lächelns.
    Kraus ermunterte Erich, sich zu bedanken, dann gingen sie zur Rolltreppe.
    Nach der Niederlage von 1918 hatten etliche rechtsextreme Parteien die Vorstellung propagiert, eine internationale Verschwörung von Juden hätte dem »Vaterland einen Dolchstoß in den Rücken« versetzt. Der Centralverein, die Hauptvereinigung deutscher Juden, wehrte sich dagegen und machte allgemein bekannt, dass über einhunderttausend Soldaten jüdischen Glaubens in der kaiserlichen Armee gedient hatten. Beinahe zwölftausend waren gefallen. Das waren erschreckende Prozentzahlen angesichts der Tatsache, dass weniger als eine halbe Million Juden in diesem Land lebten. Kraus wurde von ihnen als eine Art Vorzeige-Jude vereinnahmt und präsentierte sich auf Versammlungen in Uniform und mit Orden, während seine Geschichte in nationalen Veröffentlichungen verbreitet wurde. Ihm war nicht sonderlich an dieser Art von Aufmerksamkeit gelegen, aber immerhin hatte er letztlich dadurch Vickis Hand gewonnen. Wenn man um eine wunderschöne und vermögende Frau warb, konnte es nicht schaden, wenn man den höchsten militärischen Orden der Nation besaß. Jetzt, ein ganzes Jahrzehnt später, hatte er eigentlich gehofft, dass solche Mythen wie der vom jüdischen Vaterlandshass längst verblasst waren. Die Verkäuferin im KaDeWe hatte ihm jedoch klargemacht, dass dem keineswegs so war. Was seinen Glauben an einen langsamen, aber stetigen Fortschritt dennoch keineswegs zerstören konnte. Er

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