Kindersucher
betrachtete sie es als eine himmlische Pflicht, entfernte umständlich das Monokel und ließ es dann an einer Kette über ihrer Weste baumeln.
»Also ...« Sie griff in eine Holzkiste und zog ihre Hand mit einer Zigarre wieder heraus. Sie entzündete sie an einer Kerze und blies Kraus den Rauch ins Gesicht. »Sexuelles Verlangen ist, wie Ihnen vermutlich nicht klar sein dürfte«, sie wartete auf seine Reaktion, »verbunden mit der elektromagnetischen Strahlung, die von der Sonne ausgeht. Ja. Wenn dieses Verlangen mit hingebungsvollen Gebeten gekoppelt wird, kann seine Befriedigung etwas ... etwas Heiliges werden. Für uns ist Sex nicht nur eine vergnügliche Angelegenheit, sondern ein rituelles Sakrament, durch das wir Vereinigung mit dem All erlangen.«
Sie wartete auf seine Reaktion.
»Ja ... also ... großartig.« Kraus nickte eifrig. »Wer wollte das nicht?«
Er hatte erst kürzlich in einem Magazin gelesen, dass fast ein Viertel der Berliner auf die ein oder andere Art und Weise mit einer Geheimsekte verbunden war; zweifellos übertrieben die Medien da. Aber trotz elfhundert Jahren Christenheit reichten die okkulten und heidnischen Wurzeln in diesem Land sehr tief. Die Walpurgisnacht wurde nach wie vor mit Tänzen um Scheiterhaufen und Strohpuppen gefeiert. Und in den großen Städten gab es ganze Zirkel mit Hexenmeistern und Seherinnen, außerdem Gott weiß wie viele mystische Kulte mit Scharen von Anhängern. Nudisten. Naturalisten. Sexmagiere. Teufelsanbeter.
»Ich würde liebend gerne mehr darüber erfahren. Kann ich an einer ihrer Zeremonien teilnehmen?«
»Nur, wenn sie von einem anderen Mitglied eingeladen werden. Und zuvor von uns befragt worden sind.«
»Verstehe. Gut, können Sie mir sagen, wer Ihr ... Anführer ist?«
Brigitta spie einen Tabakkrümel aus. »Was ist mit ihr?«
»Oh«, murmelte er. »Es ist eine Sie?«
Sie legte die Zigarre weg, stützte ihre Handflächen auf den Tresen und streckte sich, bis ihr Gesicht direkt vor dem von Kraus war. Dann musterte sie ihn erneut durch das Monokel.
»Sie sind nicht zufällig ein Privatschnüffler, oder?«
Kraus wich ein Stück zurück. »Warum fragen Sie das?«
»Das will ich Ihnen sagen. Weil dieser perverse Mistkerl Braunschweig jeden Schwanz, den er an den Eiern kriegen kann, hierher schickt, damit er Helga nachschnüffelt. Wenn Sie also einer von denen sind, mein Herr, dann hören Sie genau zu.« Sie drückte die Zigarre aus. »Helga hat diesen verrückten Säufer schon vor Jahren verlassen. Während des Krieges, so lange ist das her. Kapiert? Und jetzt ist sie vergeben. Haben Sie das verstanden? Also lassen Sie gefälligst Ihre dreckigen Mackerpfoten von ihr!«
ACHT
Die Feiertage kamen. Die Menorah von Kraus’ Großmutter, hergestellt 1694 in Frankfurt, warf ihren fröhlichen Glanz durch das Wohnzimmer. Die Familie sang die traditionellen Lieder und drehte den Kreisel. Stefan gewann wundersamerweise alle Schokoladentaler. Die Verkäuferin im KaDeWe mochte vielleicht eine Antisemitin gewesen sein, aber sie hatte recht gehabt, was Erichs Modellflugzeug anging: Der Fokker Dreidecker war kein Kinderspielzeug. Drei freitragende Flügel, die von kleinen Streben gehalten wurden, eine Seidenhaut, die man über einen Gitterrahmen aus Aluminium spannen musste, dazu Messing-, Leder- und Holzteile ... all das zusammenzusetzen erforderte sehr viel Fingerfertigkeit. Vielleicht hätte er nicht zulassen sollen, dass Erich sich dieses Flugzeug aussuchte.
Und nicht weniger ärgerlich waren an diesen letzten Tagen des Jahres die Widrigkeiten bei der Arbeit.
Helga Braunschweig und ihre Mission der göttlichen Strahlung blieben außerhalb seiner Reichweite. Weder die Telefonnummer des Zentrums noch die der Boutique waren im Verzeichnis aufgeführt, und die beiden Male, bei denen Kraus in der Bleibtreustraße aufgetaucht war, hatte er dort niemanden angetroffen.
In der Weihnachtswoche waren die Büros geschlossen und dann für anderthalb Tage ab Montag, dem 30. Dezember, geöffnet. Kraus stattete als Erstes dem Gesundheitsministerium einen Besuch ab. Das lange Labyrinth von Gängen und Fluren war so gut wie leer. Alle waren noch in Urlaub. In einem wohlverdienten Urlaub, wie es schien, angesichts des schwer erkämpften Sieges über die Listeria. Frau Dr. Riegler war nirgendwo zu finden. Dafür aber Heilbutt. Als Kraus sich ihm in seinem Labor näherte, schien der alte Knacker jedoch schlagartig sein Gedächtnis zu verlieren. Er tat, als könnte er
Weitere Kostenlose Bücher