Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kindersucher

Kindersucher

Titel: Kindersucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
Vom Netzwerk:
gedruckt war. Deutschlands Hyperinflation von 1923 war die schlimmste in der Geschichte.
    »Kommen Sie zum Punkt, Heilbutt.«
    »In den ersten Monaten des Jahres 23 wurde uns immer wieder gemeldet, dass irgendwelche Wurst merkwürdig schmeckte. Das war nicht weiter ungewöhnlich. Die Leute beschwerten sich immer über dies oder das. Aber nach einigen zufälligen Tests fanden wir in einigen Exemplaren zehn, vielleicht zwölf Prozent Füllmaterial, das wir im Labor ganz eindeutig der Sorte canis lupus familiaris zuordnen konnten. Hund. Aber es gab keine Bakterien. Niemand wurde krank. Es war einfach nur ... Hundefleisch. Wir waren natürlich alle angeekelt. Aber unsere Vorgesetzten bestanden darauf, dass wir die Angelegenheit unter den Teppich kehrten. Die Zeiten wären schon verrückt genug, hieß es, auch ohne dass wir den Leuten so viel Angst machten, dass sie nichts mehr aßen. Also untersuchten wir in aller Stille weiter. Und wir machten Fortschritte. Ich würde sagen, wir schon waren auf halbem Weg, als plötzlich alle Proben sauber waren. Kein Hundefleisch mehr. Wer auch immer das getan hatte, er hatte offenbar erfahren, dass wir ihm allmählich auf die Spur kamen, denn das Hundefleisch tauchte in der Wurst nie wieder auf. Außerdem kam dann die Währungsreform, und die Inflation war vorbei. Daraufhin gab man uns ganz unmissverständlich zu verstehen: Die Akte Hund ist geschlossen.«
    »Sie waren auf halbem Weg wohin?«
    Heilbutts Augen glühten. »Wir hatten herausgefunden, dass diese Wurst auf einem dieser illegalen Märkte in der Nähe der Landsberger Allee verkauft worden war, als Lamm etikettiert. Der Verkäufer war zwölf Jahre alt. Können Sie das glauben? Er kannte nicht mal den Namen seines Chefs. Und das Zeug kam ganz eindeutig aus dem Viehhof. Wir vermuteten, dass die Quelle auf der Südseite lag, der Zone mit den Nebenprodukten. Ich wollte die Spur weiterverfolgen, aber Henrietta, ich meine Dr. Riegler, hatte Angst, ihren Job zu verlieren. Sie sagte mir, sie hätte zu hart dafür gearbeitet, um ihre ganze Karriere wegen irgendwelcher asozialer Schurken wegzuwerfen. Und es war ja schließlich auch niemand ernstlich erkrankt.«
    In Heilbutts müden Augen leuchtete plötzlich so etwas wie Zärtlichkeit auf. »Was soll ich sagen? Sie stammte aus einer einfachen Familie. Sie musste sich wirklich abstrampeln, um Medizin studieren zu können. Können Sie sich vorstellen«, er lächelte schwach, »dass sie das einzige Mädchen in ihrem Jahrgang war? Sie hat alles ihrer Karriere untergeordnet. Hat nie geheiratet. Da sie meine Chefin war, hätte das mit uns natürlich niemals funktioniert, aber ich hätte sie gern gefragt, Kraus. Ich habe zwar immer so getan, als würde ich mich nicht für sie interessieren, aber ...«
    Das Signalhorn tutete dreimal ohrenbetäubend. »Alle, die von Bord müssen ...!«, verkündete der Lautsprecher unwiderruflich.
    »Sagen Sie, dieses Mal ... was wird vertuscht?«
    Heilbutt presste die Lippen zusammen.
    Wieder schrillte das Horn, und das Deck begann zu vibrieren. Kraus begriff, dass der Anker gelichtet wurde.
    Er packte Heilbutt am Revers. »Spucken Sie es endlich aus!«
    Der ältere Mann schüttelte den Kopf. »Sie haben geschworen, dass sie mir die Beine brechen würden.«
    »Sie werden es niemals herausfinden.«
    »Es sind sehr mächtige Männer.«
    Kraus starrte Heilbutt an und machte ihm klar, dass er keine andere Wahl hatte, als zu antworten.
    Der alte Mann holte tief Luft. »Es gab niemals irgendwelche Listeria-Bakterien in Schlachthaus Sieben. Und auch nirgendwo anders auf dem Viehhof wurden Listerien gefunden. Die Berichte waren von vorn bis hinten gefälscht.«
    »Was?« Kraus dachte an Dr. Rieglers Wange, die gezuckt hatte wie diese verrückten kleinen Bakterien unter einem Mikroskop. »Aber ... warum?«
    »Es hatte seit Wochen keine neuen Todesfälle oder Erkrankungen mehr gegeben. Die Industrie und die Gewerkschaften bestürmten uns, das Wurstverbot aufzuheben. Schließlich bekamen wir von oben die Anweisung, genau das zu tun. Wir durften nur der Öffentlichkeit nicht erzählen: ›Also gut, alles ist wieder ganz normal. Wir wissen zwar nicht, was passiert ist, und wir haben auch keine Spur der Bakterien gefunden, die wir in den letzten sechs Wochen durch ganz Berlin verfolgt haben, aber jetzt dürfen alle wieder Wurst essen.‹ So funktioniert das nicht. Irgendjemand musste die Schuld auf sich nehmen. Man hat Kleist-Rosenthaler ein Vermögen dafür bezahlt, den

Weitere Kostenlose Bücher