Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kindersucher

Kindersucher

Titel: Kindersucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
Vom Netzwerk:
große Depression, wie man den Börsenkrach jetzt nannte, zog die ganze Welt in den Abgrund, und nirgendwo geschah das schneller als in Deutschland. In Berlin machten ständig irgendwelche Firmen pleite, und die Produktion wurde überall heruntergefahren. Jede Woche wurden Tausende von Menschen entlassen. Kraus konnte selbst jetzt eine lange Schlange sehen, die nicht nur aus Hilfs- und Fabrikarbeitern bestand, sondern auch aus Verkäufern, Buchhaltern, Ladenbesitzern, leitenden Angestellten, die alle gekommen waren, um ihr Stempelgeld abzuholen. Das die neue Regierung zudem auch noch beschneiden wollte. Die große Koalition aus Zentrumspartei und Liberalen war vor ein paar Tagen auseinandergebrochen, ein weiteres Opfer der Depression. Der neue Kanzler, Brüning, ein glühender Konservativer, war der erste Führer einer Regierung, die nicht von einer Mehrheitspartei gebildet wurde, sondern direkt vom Reichspräsidenten ernannt worden war. Laut Fritz war das eine ganz klare antidemokratische Entwicklung. Kraus hatte sich einige Tiraden von seinem Freund anhören müssen.
    »Ich habe Brüning erst neulich in seinem neuen Büro in der Reichskanzlei interviewt.« Fritz zuckte mit den Schultern. Sie saßen im Excelsior, und er schob sich gerade eine Gabel Shrimpscocktail in den Mund. »Er ist in jeder Hinsicht autoritär. Und er hat mir gesagt, er beabsichtige, sein Sparprogramm mit oder ohne dem Reichstag durchzupeitschen.«
    »Ich dachte, wir hätten eine Verfassung.«
    »Das schon, aber unter besonderen Bedingungen erlaubt Artikel 48 der Verfassung dem Reichspräsidenten, ›Notfall-Maßnahmen‹ ohne Zustimmung des Parlamentes zu ergreifen.«
    »Hindenburg wird ihn unterstützen?«
    »Die haben das doch gemeinsam ausgeheckt, mein Junge. Die beiden sind glühende Reaktionäre. Im besten Fall wollen sie eine neue Verfassung, die die Rechte des Parlaments beschränkt. Und schlimmstenfalls wollen sie ein Ende der Demokratie. Am meisten würde ihnen zweifellos gefallen, meinen Cousin dritten Grades wieder in seinen gottverdammten Palast zu pflanzen.«
    Kraus starrte Fritz verwirrt an. Erzählte sein Freund ihm Märchen? Es kam ihm vollkommen unmöglich vor, dass die Geschichte einen solchen Rückschritt machen könnte. Wieder ein Kaiser in Deutschland? Kaum auszumalen.
    Andererseits, wer hätte sich vor einem Jahr die große Depression vorstellen können?
    Und als er ein Kind war, wer hätte sich irgendetwas von dem vorstellen können, was damals vor ihnen lag?
    Hätte man den Menschen im Juli 1914 gesagt, dass sie an der Schwelle des größten militärischen Konfliktes der menschlichen Geschichte ständen, hätte das ebenso lächerlich geklungen wie wenn man ihnen erzählt hätte, man hätte einen Faun entdeckt. Und dann noch die Niederlage? Die folgende Revolution? Eine liberale Republik?
    Die Musik eines Leierkastenmannes lenkte Kraus’ Aufmerksamkeit wieder auf den Bürgersteig. »Ja! Wir haben keine Bananen.« Eine kleine Menge applaudierte dem Affen, der an einer Leine in einem Grasröckchen tanzte. Kraus hatte Mühe, sich an den Straßenhändlern vorbeizudrängen, die das Trottoir bevölkerten.
    Es hatte schon immer Straßenhändler auf dem Alex gegeben, die billige Krawatten, Unterwäsche oder Büstenhalter verkauften, Schuhe putzten oder einem anboten, einen zu wiegen. An Wochenenden gab es auch Jongleure und Pantomimen. Männer auf Stelzen. Seit dem Börsenkrach jedoch hatte sich die Zahl der Verkäufer verdreifacht und die Qualität ihrer Waren drastisch verringert. Jetzt hielt einem nach jedem Schritt irgendjemand einen Becher mit Bleistiften, Gummistrippen oder Schuhbänder entgegen. Der flotte Sarkasmus von früher, Komm schon, Mann, stell dich der Realität. Finde raus, wie viel du wiegst!, war der Verzweiflung gewichen. Einen Bleistift für einen Pfennig, mein Herr. Was macht Ihnen das schon aus? Sie können doch ganz sicher einen ...
    Kraus hielt den Blick gesenkt.
    Jedes Mal, wenn er unter der flatternden Markise von Aschinger hindurchging, einem der beliebtesten Restaurants der Stadt, breitete sich ein ekliges Gefühl in seinem Bauch aus. Denn soweit er wusste, konnte hinter diesem Fenster, in diesen langen, so lecker aussehenden Salamis ...
    Aber konnte er denn mehr tun, als er bereits tat?
    Natürlich war er zum Kommissar gegangen, sobald er aus Bremerhaven zurückgekommen war.
    »Menschenfleisch in unserer Wurst?« Horthstaler schien so sehr mit einer Reihe von Zahlen in den Unterlagen auf seinem

Weitere Kostenlose Bücher