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Kindersucher

Kindersucher

Titel: Kindersucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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Sündenbock zu spielen. Selbst die Arbeiter haben ein nettes Handgeld bekommen. Henrietta und ich bekamen dagegen nur mitternächtliche Anrufe von einem anonymen ›Freund‹, der andeutete, dass es für uns vielleicht besser wäre, für eine Weile das Land zu verlassen.«
    »Wer war dieser ›Freund‹?«
    »Wer? Welche Rolle spielt das? Es war einer von den Schlägern. Schläger der Gewerkschaft. Schläger der Betriebsleitung. Was weiß ich? Von jemand, der es vertuschen wollte.«
    Wer auch immer diese Leute waren, sie schienen ebenfalls dafür gesorgt zu haben, dass die gefälschten Laborberichte verschwanden.
    Kraus hörte ein dumpfes Poltern am Rumpf. Die Haltetaue wurden gelöst. Eine Woge der Erregung spülte über das Deck.
    Dann plötzlich wurde ihm etwas klar: So verrückt es auch sein mochte – was Heilbutt gerade gestanden hatte, erklärte immer noch nicht, warum Rieglers Wange schon beim ersten Mal, als er ihr begegnet war, wie wild gezuckt hatte.
    Wieder gellte der ohrenbetäubende Ton der Dampfpfeife.
    Glocken läuteten. Korken knallten.
    Das ganze Deck schüttelte sich heftig.
    Die Turbinen waren angeworfen worden.
    »Abgesehen davon, dass Listerien nichts damit zu tun hatten«, spekulierte Kraus in dem Wissen, dass er noch etwa anderthalb Minuten Zeit hatte, zu verschwinden, wenn er nicht ebenfalls nach New York fahren wollte, »Sie haben noch etwas anderes in der Wurst entdeckt, habe ich recht, Heilbutt? So etwas wie damals das Hundefleisch.«
    Heilbutts Gesicht wurde so grau wie der Rauch, der aus den großen Schornsteinen quoll.
    Plötzlich war sich Kraus nicht mehr so sicher, ob er noch hören wollte, was der Mann zu sagen hatte.
    Aber Heilbutt schien die Worte nicht herausbringen zu können. Ihm stiegen Tränen in die Augen. »Es war nicht einmal in derselben Wurst, die die Leute krank gemacht hat.« Er zuckte die Schultern angesichts der Ironie, die darin steckte. »Wir sind rein zufällig darauf gestoßen. Riegler und ich waren die beiden Einzigen, die davon wussten. Aber wir haben es gefunden, ja.« Er nickte, kniff die Augen zusammen und wand sich, schien es erneut vor sich zu sehen.
    Kraus wich zurück, leicht schwankend, als ihm die Wahrheit schwante, er zu verstehen glaubte.
    »Nehmen Sie das hier.« Heilbutt steckte ihm eine Karte zu. »So können Sie mich in New York erreichen.«
    Kraus’ Gliedmaßen schienen nicht funktionieren zu wollen. »Woher ...« Er musste die Worte herauswürgen. »Wie haben Sie es herausgefunden?«
    »Unter einem Mikroskop«, flüsterte Heilbutt angespannt und scheuchte ihn weg. »Man kann es nicht verwechseln. Menschliches Fett, Kraus. Und Brocken von menschlichem Fleisch. Und jetzt verschwinden Sie endlich, Mann, um Himmels willen!«

BUCH ZWEI
... desto zarter das Fleisch

ZEHN

Berlin, April 1930

    Die Glocke bimmelte. Die Türen der Straßenbahn klappten auf. Kraus trat hinaus in die Sonne. Es war ein langer, harter Winter gewesen, und wie alle anderen Einwohner von Berlin war auch er froh, dass er vorbei war. Aber als er nach dem Mittagessen zurück zur Arbeit ging, konnte er die Kälte nicht aus den Knochen schütteln, trotz des warmen Windes, der über den Alexanderplatz strich.
    Er erinnerte sich daran, wie verblüfft er gewesen war, als er neulich morgens an dem Trümmerfeld des einstigen Grand Hotels vorbeigegangen war und ein echtes Zigeunerlager vorgefunden hatte, das dort offensichtlich über Nacht aufgeschlagen worden war. Ein Dutzend Zigeuner stand mit ihren Wohnwagen und den Zugpferden da und brutzelte Frühstück über offenen Feuern. Am Mittag waren sie ziemlich brutal von der Polizei vertrieben worden, und jetzt befand sich dort eine bunte Plakatwand. Darauf waren zwei glänzende Bauwerke abgebildet, die schon bald die Eckpfeiler des neuen Alexanderplatzes bilden sollten. Wenn die beiden Gebäude, das Alexander- und das Berolina-Haus, im Jahr 1932 fertiggestellt waren, würden die gläsernen Galerien im ersten Stock über den Geschäften und Restaurants im Erdgeschoss schweben, sie hätten einen eigenen Zugang zur U-Bahn-Station und etliche Stockwerke mit sonnendurchfluteten Büroräumen. Wenn nur alle Dinge so verwirklicht würden, wie die Künstler sie in ihren Kunstwerken ankündigten, dachte Kraus, während er die modernen Entwürfe bewunderte. Dann wäre die Zukunft rosig. Aber nur sehr selten entsprach etwas letztendlich der Werbung, die dafür gemacht wurde.
    Zum Beispiel dieses strahlend neue Jahrzehnt. Bis jetzt stank es nur.
    Die

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