Kindersucher
mürrische Rothaarige, in der Kraus Brigitta erkannte, zwei weitere Vorhänge vor einer Fensterfront zurück und enthüllte ein Panorama von Berlin, das bis zum Tiergarten reichte und über das die ersten rosa Strahlen der Morgenröte glitten. Helga hob mit einem Arm eine Art Zepter und drehte sich zu der Stadt herum, wie eine Gestalt in einem bunten Kirchenfenster.
»Fackel des Himmels, Braut der Götter. Aus dir wurden Planeten geboren. Aus dir nährt sich das Leben. Im Namen von Titan, Helios und Ra heißen wir dich mit Mazdaznan willkommen!«
»Yasna Haptanghaiti!«, intonierte die Gemeinte. Was für ein verrückter Eintopf aus längst vergessenen Religionen, dachte Kraus. Obwohl er zugeben musste, dass Helga das Menü mit sehr viel Elan servierte.
»Die Alten«, sie breitete ihre weißen Arme aus, als wollte sie Beistand spenden, »glaubten, dass es jahrelange Übung erforderte, der Göttlichen Energie zu ermöglichen, alle vierunddreißig Kammern des Rückgrats hinabzuströmen und absolute Wonne zu erzeugen.«
Sie lächelte und legte den Kopf schief, um anzudeuten, wie wenig diese Alten gewusst hatten. Dann glitt ihr Blick liebevoll über die Anwesenden und richtete sich wie zwei magnetische Strahlen auf ... Kraus. Dem lief kurz ein Schauer über den Rücken.
»Heute verfügen wir natürlich über den kosmischen Kristall, der uns befähigt, in sehr kurzer Zeit das zu erreichen, was die Alten selbst mit so viel Mühe nicht erreichen konnten, nämlich spirituelle Ekstase. Ja. Innerhalb der Aura unseres Polyeders galvanisieren unsere neunundzwanzig heiligen Bewegungen die Seele direkt in den Kontakt mit der vierten Dimension.«
Helga führte ihre Herde in eine Reihe von Streckübungen und Beugungen und schrie dabei: »Strömt und fließt! Fühlt das Licht!«, während sich der Rhythmus der Trommeln intensivierte und die Bewegungen schneller wurden. »Denkt daran: Raum existiert nicht!« Schließlich, als das Licht der aufgehenden Sonne auf das rote Seidenbett fiel, verkündete sie: »Jetzt ist der Moment gekommen, den sich öffnenden Kosmos zu füllen.«
Kraus brauchte nicht lange zu warten, um ein genaues Bild von dem zu bekommen, was genau am Kosmos sich öffnen sollte.
Die Reihen aus weißen und schwarzen Roben an den gegenüberliegenden Wänden bildeten zwei parallele Linien, und die unterschwellige Spannung steigerte sich zu offener Erwartung.
»Das Ego ist tot, und die Erregung des Astralkörpers findet im engelsgleichen Zustand ihren Höhepunkt!«
Helga nickte dem ersten Mann und der ersten Frau in jeder Reihe zu. Sie ließen jeweils ihre Roben fallen und schritten langsam und förmlich zum kosmischen Kristall. Als sie den roten Seidendiwan erreichten und nackt hinaufkletterten, begannen die anderen zu singen: »Yasna Haptanghaiti ... Yasna Haptanghaiti ...«
Verrückt. Und irritierend. Aber nicht kriminell, jedenfalls soweit Kraus das erkennen konnte. Männer und Frauen stand es in diesem Land frei, zu tun, was sie wollten, solange es aus freiem Willen geschah. Ganz offenbar war auch der Vorwurf des Kindesmissbrauchs nicht gerechtfertigt, da sich hier kein einziges Kind aufhielt. Und nicht ein Tropfen Tierblut war zu sehen. Aber in zehn Jahren Ehe hatte er Vicki niemals betrogen, und er beabsichtigte nicht, jetzt damit anzufangen. Doch was für ein inspirierendes Spektakel, dachte er. Ein himmlischer Sexclub. Die Leute bezahlen dafür, anonym miteinander vögeln zu dürfen, und haben das Gefühl, sie würden dadurch erleuchtet.
Er bemerkte, wie Helga, die Hohepriesterin, Brigitta etwas zuflüsterte und dann durch eine Seitentür verschwand. Danke, Gott, dachte er. Mein Ausreisevisum. Er zählte bis zehn, raffte dann seine Robe hoch, damit er nicht stolperte, und schob sich durch die Tür hinter ihr her. Dann lief er auf Zehenspitzen eine lange Treppe hinab und kam sich dabei in seinem Aufzug ziemlich lächerlich vor. Aber er war fest entschlossen, diese Dame zu stellen. Immerhin war er ihr schon seit Monaten auf der Spur.
Am Fuß der langen, mit einem Teppich ausgelegten Treppe, am Ende eines dunklen Flures, sah er den Schimmer ihres blonden Haares, bevor sie durch eine Tür verschwand. An die Wand gepresst glitt er vorsichtig weiter und hätte fast den Stuhl gegenüber ihrem Zimmer nicht bemerkt, auf dem ein großer Mann mit Schnurrbart saß. Es war der rote Turban, der die Leute im Erdgeschoss hereingelassen hatte. Natürlich, ein Leibwächter. Kraus drückte sich in eine Nische.
Was
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