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Kindersucher

Kindersucher

Titel: Kindersucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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hatten, Kapuzen, die das Gesicht fast vollkommen verhüllten.
    War das wirklich notwendig?
    Er hätte natürlich seine Dienstmarke zücken und verlangen können, sofort zu Helga geführt zu werden. Aber dann würde er niemals herausfinden, was hier vor sich ging. Willst du deine Zeitgenossen täuschen, kleide dich wie sie, sagte er sich. Er legte Schuhe, Krawatte und Jackett ab. Dann die Hose. Im letzten Moment jedoch streifte er seine Robe rasch über seine Unterwäsche, statt sich splitternackt auszuziehen, und atmete erleichtert auf, weil niemand es bemerkt zu haben schien. Er hatte nicht die Absicht, ohne Unterhose herumzulaufen. Aber keiner schien sich auch nur im Geringsten um ihn zu kümmern. Alle waren viel zu sehr damit beschäftigt, eine Wendeltreppe am anderen Ende des Raumes hinaufzusteigen.
    Kraus kam sich in diesem Aufzug, mit aufgesetzter Kapuze, vollkommen merkwürdig vor. Ein Jude in den Roben eines Mönchs. Doch er schloss sich dem Pilgerzug an und stieg die Wendeltreppe immer weiter empor, bis ihn plötzlich ein Gedanke wie ein Blitzschlag traf: seine Dienstmarke. Er hatte sie in seiner Jackentasche stecken lassen. Er drehte sich herum, entschlossen, sie zu holen, doch die Wendeltreppe hinter ihm war voller Männer. Wenn er keinen Aufstand verursachen wollte, musste er weitergehen.
    Herr im Himmel! Jetzt fühlte er sich wirklich nackt.
    Es ging vier Stockwerke hinauf, bis zu einem Penthouse unter dem Dach, einem dunklen Saal, der in rötliches Licht getaucht war. Es gab keine Stühle, sondern nur Kissen auf dem Teppichboden, der sich rasch mit sitzenden Gestalten füllte. Von einer Treppe gegenüber betrat eine andere Prozession in Kapuzen den Raum, nur dass ihre Roben weiß waren. Die Frauen. Auf der Stirnseite des Raums führten etliche Stufen zu etwas wie einem Altar, der jedoch hinter blauen Satinvorhängen verborgen war. Darauf stand ein geflügelter, goldschimmernd bemalter Löwe, der irgendwie babylonisch wirkte. Zwei Wände des Saales waren bemalt, die Szenen zeigten Sonnenaufgänge über den sieben Wundern der antiken Welt. Ziemlich kitschig und recht kostspielig. Kraus vermutete, dass die Mitgliedsbeiträge in diesem Club astronomisch waren.
    Kurz vor fünf begann eine Trommel zu schlagen. Dann drang eine Flötenmelodie durch den Raum. Zuerst leise, dann immer lauter begannen die Versammelten zu singen: »Mazdaznan ... Mazdaznan ...«
    Waren das dieselben Berliner, die er noch vor wenigen Minuten in ihrer maßgeschneiderten Garderobe über die Bleibtreustraße hatte hetzen sehen? Vielleicht ist es ja gar nicht so überraschend, dachte Kraus, bei all den verblüffenden Fortschritten in der drahtlosen Kommunikation, der Hirnforschung und der Atomphysik, dass sich welterfahrene Großstädter zum Primitiven und Mystischen hingezogen fühlen. Vor allem jetzt, wo ihnen sozusagen der Teppich unter den Füßen weggezogen wurde. Aber diese Gruppe hier hatte wirklich eine Grenze überschritten. Unwillkürlich dachte er an die verrückte Autofahrt vom Admiralspalast nach Hause, an dem Abend, an dem sie Josephine Baker gesehen hatten. Was hatte Dr. von Hessler wohl gemeint, als er sagte, er studiere die menschliche Furcht?
    Um Punkt fünf Uhr wurden wie durch Magie die blauen Vorhänge vom Altar zurückgezogen. Helga, die Hohepriesterin, erschien; sie lag auf einem Bett und war in einen merkwürdigen, mehreckigen Käfig gesperrt. »Mazdaznan ... Mazdaznan ... Yasna Haptanghaiti ...« Die Trommel schien sie zu wecken; sie erhob sich langsam, den Rücken den Versammelten zugewandt, und hob theatralisch ihre beiden milchigweißen Arme. »Aurora!«, rief sie. »Göttin der Morgendämmerung ... öffne deine Pforten. Auf dass sich Shamesh erhebe!«
    Kraus musste sich zusammenreißen, um nicht zu kichern. Das war noch schmieriger als eine Revue auf der Friedrichstraße. Sie stand zwar mit dem Rücken zum Publikum, doch er konnte erkennen, dass Helga keineswegs ein junges Mädchen, sondern eine reife Frau war, welche die Vierzig deutlich überschritten hatte. Ihre dralle Figur war in ein metallisch-goldenes Gewand gehüllt, das ihre Schultern und den größten Teil ihres Rückens freiließ. Sie strahlte Macht aus. Mit ihrer Stimme und ihrer Haltung.
    Schließlich drehte sie sich um und stellte sich der Versammlung: eine als Sirene aufgemachte Domina. Ihr anzügliches Grinsen schien zu erklären: Was ihr hier seht, ist, was ich bin. Wenn es euch nicht gefällt ... dann leckt mich doch!
    Hinter ihr zog eine

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