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Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Titel: Kindertotenlied: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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Antwort. Sie tippte erneut.
    [Elias?]
    [OK]
     
    Sie stand auf, ging zum Waschbecken, um sich zu erfrischen, steckte sich einen Kaugummi in den Mund und ging aus dem Zimmer. Als sie den Fuß der Treppe erreichte, war er nicht da, und sie begann sich zu fragen, ob er überhaupt kommen würde, als er schließlich mit undurchdringlichem Gesicht auftauchte.
    „Was willst du?“, fragte er.
    Sie überlegte, wie sie anfangen sollte; sie suchte nach den passenden Worten, dann plötzlich wusste sie, was zu tun war. Sie trat ganz dicht an ihn heran, legte ihre Lippen auf seine. Er antwortete nicht auf ihren Kuss. Im Gegenteil, sie spürte, wie er sich verkrampfte, kalt wie Marmor, aber sie küsste weiter, bis er auftaute, sie umarmte und schließlich reagierte.
    „Entschuldige“, flüsterte sie.
    Ihre Hand lag in seinem Nacken, und sie blickte ihm tief in die Augen, als ihr BlackBerry in der Hosentasche summte. Sie ignorierte es, aber das Summen hörte nicht auf. Elias löste sich aus ihren Armen.
    „Tut mir leid“, sagte sie ihm.
    Sie sah auf das Display. Ihr Vater … Mist! Er würde bestimmt hier aufkreuzen oder Samira schicken, wenn sie nicht antwortete.
    „Papa?“
    „Hab ich dich geweckt?“
    „Äh … nein.“
    „Ok. Ich komme.“
    „Jetzt?“
    „Du wolltest mir etwas Wichtiges sagen … Tut mir leid, mein Schatz, aber ich konnte mich nicht früher loseisen. Heute Nacht sind einige Dinge passiert.“
    Wem sagst du das?
    „Ich bin in fünf Minuten da“, fügte er hinzu.
    Er ließ ihr nicht die Zeit, zu antworten. Er hatte aufgelegt.
     
    David hatte den Tod von jeher als Freund betrachtet. Als Komplizen. Als Vertrauten. Schon so lange begleitete er ihn. Im Gegensatz zu den meisten Menschen hatte er nicht nur keine Angst vor ihm, sondern sah in ihm eine Art Partnerin. Vom Tod umfangen … Eine romantische Formel, sogar in höchstem Grade romantisch; fast wie von Novalis oder Mishima, aber die Idee gefiel ihm. Er wusste, dass die Krankheit, an der er litt, einen Namen hatte. Depression. Ein Wort, das fast genauso beängstigend war wie das Wort Krebs. Zu verdanken hatte er sie seinem Vater, seinem älteren Bruder. Diesem schwarzen Samenkorn, das sie ihm schon ganz früh ins Gehirn gepflanzt hatten, indem sie ihm Tag für Tag, Jahr für Jahr, klarmachten, dass er das schwarze Schaf der Familie, das hässliche Entlein war. Selbst der unfähigste Psychologe hätte in seiner Kindheit lesen können wie in einem offenen Buch. Ein distanzierter, autoritärer Vater, der über mehrere Zehntausend Angestellte herrschte und dessen Aura jeder Besucher spüren konnte; ein großer Bruder, der vorbildliche Erbe, der sich schon sehr früh auf die Seite des Vaters schlug und ihn mit Demütigungen überhäufte; ein kleiner Bruder, der bei einem Badeunfall im Swimmingpool der Familie ertrunken war, während David ihn beaufsichtigen sollte; eine Mutter, die von sich selbst besessen und in ihre kleine Innenwelt eingesperrt war. Papa Freud hätte über seine Familie ein ganzes Buch schreiben können. Zwischen vierzehn und siebzehn Jahren war seine Mutter mit ihm bei allen Ärzten der Region gewesen – aber die Depression war trotzdem geblieben. Allerdings gab es Momente, in denen er sie auf Distanz halten konnte, in denen sie nur ein vager, bedrohlicher Schatten in einem sonnendurchfluteten Nachmittag war, Momente, in denen er richtig lachen konnte und sich sogar heiter und unbeschwert fühlte – und andere, in denen die Finsternis über ihn hereinbrach wie jetzt gerade, wo er den Tag fürchtete, an dem das Dunkel seinen festen Griff nicht mehr lockern würde.
    Ja, der Tod war eine Option … Und zwar die einzige, die ihn von diesem Schatten befreien könnte.
    Vor allem wenn er dadurch den einzigen Bruder, den er jemals gehabt hatte, aus dem Gefängnis holen konnte. Hugo … Hugo, der ihm gezeigt hatte, wie wenig bewundernswert sein Vater war und was für ein Idiot sein leiblicher Bruder. Hugo, der ihm klargemacht hatte, dass er ihnen in nichts nachstand, dass nicht besonders viel dazugehörte, die fette Kohle zu machen – dass man dazu jedenfalls weit weniger Talent brauchte, als ein zweiter Basquiat oder Radiguet zu werden. Gereicht hatte das natürlich nicht. Aber es hatte geholfen. Wenn Hugo in der Nähe war, spürte David, wie die Schwermut ihren Griff lockerte. Jedenfalls hatte Hugos Gefängnisaufenthalt ihm eine Sache bewusst gemacht, die er bis dahin lieber ausgeblendet hatte: Hugo würde nicht immer da sein. Früher

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