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Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Titel: Kindertotenlied: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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Ideen, ihren Herdentrieb und ihr unheilbares Spießbürgertum. Und einsam war er. Oh ja, sie beide verstanden sich. Obwohl es Martin bestimmt schwerfiel, das zuzugeben. Sie waren einander so nahe, wie es zwei eineiige Zwillinge, die bei der Geburt getrennt worden waren.
    Unwillkürlich dachte Hirtmann seither ständig an Martin. An Alexandra, seine Ex-Frau, an Margot, seine Tochter. Er hatte sich kundig gemacht. Und allmählich war Martins Familie fast schon seine eigene. Ohne sein Wissen hatte er sich in sein Leben eingeschlichen, und er war immer ganz in seiner Nähe. Das war noch besser als eine Reality-TV-Sendung über eine Familie, die man selbst ausgesucht hatte. Hirtmann konnte gar nicht genug davon kriegen. Er war sich durchaus bewusst, dass Martins Leben gewissermaßen an die Stelle seines eigenen getreten war, aber Martin und er waren sich so nahe. Er sah in ihm ein zweites Selbst – nur ohne die düstere Seite.
    Er konzentrierte sich wieder auf das Gymnasium. Sie stiegen wieder in ihre Autos. Er selbst hatte seinen Wagen fünfhundert Meter weit weg im Wald abgestellt. Falls sich ihm jemand nähern sollte, würde sofort die hochempfindliche Alarmanlage ausgelöst, und Hirtmann wäre gewarnt.
    Eine schwarze Mütze über seinem blond gefärbten Haar, suchte er jetzt mit dem Fernglas die Fassade des Internats ab, während er mit seiner freien Hand über seinen dunklen Spitzbart strich. Die Fenster waren dunkel, bis auf das von Margot. Plötzlich erkannte er Martin im Zimmer seiner Tochter, die sich heftig gestikulierend mit ihm unterhielt. Dass er so unerwartet Zeuge dieser kleinen Familienszene wurde, erfüllte ihn mit einem Glück und einer Ergriffenheit, die ihn selbst überraschten. Teufel, du wirst dich doch nicht verlieben? Hirtmann hatte sich nie auch nur im Geringsten zu Männern hingezogen gefühlt. Dass er von seiner Heterosexualität abfiele, war so unvorstellbar wie ein möglicher Abfall Johannes Pauls II. vom Katholizismus. Aber für diesen einsamen, gebildeten Polizisten empfand er mittlerweile etwas, das von ferne seltsam an ein Liebesgefühl erinnerte. In seinem Versteck im Wald musste er bei diesem Gedanken unwillkürlich lächeln.

42
     
    Der See 2
    Er parkte am Straßenrand vor der Grundstücksgrenze und wartete, bis es sechs Uhr war. Der Tag brach mit einer Geduld an, die ihm abging. Er rauchte eine Zigarette nach der anderen, und als er die Hand vor sich ausstreckte, sah er, dass sie zitterte wie ein Weidenblatt am Fluss. Dieses Bild erinnerte ihn an den Satz, den sie alle im Philosophie-Unterricht gelernt hatten.
    Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.
    Nie, so sagte er sich, hatte er einen treffenderen Satz gehört. Er fragte sich, ob er früher ein Mädchen geliebt hatte, das es gar nicht gab. Er betrachtete die Silhouette des Hauses hinter dem Zaun und den Bäumen, und der Schmerz war wieder da. Er öffnete die Wagentür, warf die Zigarette auf den Boden und stieg aus.
    Er ging am Zaun entlang, durch das Tor und dann über den Kiesweg Richtung Haus. In der morgendlichen Stille knirschten die Steine laut unter seinen Sohlen. Sie schlief sowieso nicht. Er wusste es, als er die offen stehende Haustür sah. Sechs Uhr morgens, keine Menschenseele weit und breit, und die Tür sperrangelweit offen. Für ihn … Sie musste ihn kommen gesehen oder gehört haben. Er fragte sich, ob sie so früh aufstand oder ob sie die ganze Nacht kein Auge zugetan hatte. Er tippte auf das Letztere. Wie lange schon hatte sie nicht mehr geschlafen? Die Luft war noch immer genauso drückend, der Himmel genauso bedrohlich. Aber im Osten ging unter der grauen Wolkendecke die Sonne auf, und sie warf große Schatten durch den Garten, darunter auch seinen. Er stieg die Stufen hinauf. Ohne Eile.
    „Ich bin da, Martin.“
    Die Stimme kam von der Terrasse. Er durchquerte die Zimmer. Da, im Licht, ihre Silhouette. Sie wandte ihm den Rücken zu. Er trat ins Freie. Der See lag reglos in seinem grünen Bett. Klar und deutlich spiegelten sich darin die Wand der Bäume am anderen Ufer und der Himmel. Beeindruckende Stille. Wie am ersten Morgen der Welt. Selbst das Gras auf der Böschung schimmerte in diesem reinen Licht noch grüner.
    „Hast du die Antworten gefunden, die du gesucht hast?“
    Sie fragte distanziert, beinahe gleichgültig.
    „Noch nicht. Aber ich komme ihnen näher.“
    Langsam drehte sie sich um und starrte ihn an. Ein blasses, erschöpftes Gesicht. Rote Augen und eingefallene Wangen, trockenes

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