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Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Titel: Kindertotenlied: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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oder später würde er gehen. Und an diesem Tag würde die Depression wieder angaloppiert kommen, noch gieriger, noch ausgehungerter, noch grausamer als je zuvor. An diesem Tag würde sie ihn mit Haut und Haaren verschlingen und seine ausgeweidete Seele wie einen kleinen Knochenhaufen ausspucken. Er spürte bereits, wie sie ungeduldig über ihm kreiste und auf ihre Stunde wartete. Er hatte nicht den leisesten Zweifel: Der Sieg war ihr sicher. Er würde sie nie loswerden. Das letzte Wort hätte sie. Wozu also warten?
    Ausgestreckt auf seinem zerknitterten Bett, die Hände hinter dem Nacken verschränkt, betrachtete er an der Wand das Poster von Kurt Cobain, während er an diesen Polizisten dachte, Margots Vater. Kollateralschäden, wie die B-Movie-Helden zu sagen pflegten. Dieser Polizist wäre so ein Kollateralschaden … Indem er sich selbst als Täter bezeichnete und den Polizisten mit in den Tod riss, würde er Hugo definitiv entlasten. Die Vorstellung erschien ihm immer verlockender. Allerdings musste er erst einmal an ihn herankommen.

41
     
    Doppelgänger
    Im Gestrüpp bewegte er sich ein wenig, machte einige Streckübungen. Dann schraubte er die Thermoskanne mit Kaffee auf, legte – wie vorhin Samira einige hundert Meter weiter – eine Tablette Modafinil auf seine Zunge und spülte sie mit einem Schluck Arabica-Kaffee hinunter. Dazu ein wenig Red Bull. Dieses Gebräu schmeckte seltsam, aber es hatte die Wirkung, dass er trotz der vorgerückten Stunde so wach war wie der Vesuv am 24. August des Jahres 79.
    Und er konnte noch viele Stunden durchhalten.
    Die Aussicht, die man von hier aus hatte, war interessant. Von diesem Hügel. Obwohl die Schulgebäude mehrere hundert Meter entfernt waren, konnte er mit seinem Nachtfernglas alles beobachten, was sich dort tat. Er hatte den Commandant erkannt. Die anderen Personen kannte er nicht. Er hatte die junge Polizistin bemerkt, die sich in den Büschen hinter dem Gymnasium verkrochen hatte, und ihren Kollegen, der im Auto saß. Der versuchte übrigens gar nicht, sich zu verstecken. Hirtmann hatte sofort begriffen, dass Martin ihn dort postiert hatte, um ihn, Hirtmann, abzuschrecken. Und dieser Gedanke gefiel ihm. Der Gedanke, dass er Martin ständig durch den Kopf ging.
    Martin … Martin …
    Er hatte eine Zuneigung zu dem Polizisten gefasst. Seit dem Tag, an dem er ihn zum ersten Mal im Institut Wargnier besucht und diese äußerst geistreichen Bemerkungen über Gustav Mahler gemacht hatte. An diesem Tag hatte es stark geschneit, und die Landschaft hinter seinem Fenster war weiß. Die Dezemberkälte lastete auf den starken Steinmauern des Instituts und auf diesem verdammten unwirtlichen Tal. Élisabeth Ferney war gekommen, um Besuch anzukündigen: von einem Polizisten aus Toulouse, einer Gendarmin und einem Richter. Am Tatort in diesem Wasserkraftwerk habe man seine DNA gefunden. Die DNA eines Mannes, der in der am besten gesicherten Klinik für forensische Psychiatrie in ganz Europa untergebracht war! Als er an die allgemeine Perplexität und Verwirrung damals dachte, lächelte er. Aber keines von beidem hatte er im Gesicht des Polizisten gelesen, als der seine Zelle betreten hatte. Hirtmann hatte diesen Moment nicht vergessen. In der Wartezeit beschäftigte er sich, so gut er konnte; er war ganz in den ersten Satz der 4. Symphonie vertieft, als ihm Dr. Xavier die Besucher vorstellte. Damals sah er Martin zum ersten Mal. Seine Verblüffung, als er diese Musik erkannte, entging ihm nicht. Dann hatte Martin zu seinem größten Erstaunen und seiner größten Freude einen Namen ausgesprochen: „Mahler“. Hirtmann konnte es nicht fassen. Und seine Herzensfreude kannte schier keine Grenzen mehr, als er, indem er Martins Worten lauschte und ihn beobachtete, mit einer gewissen, kaum zu verhehlenden Rührung feststellte, dass er seinen eigenen Doppelgänger vor sich hatte, eine verwandte Seele – ein Double, das den Weg des Lichts und nicht der Finsternis gewählt hatte. Leben heißt Entscheiden, oder? Eine einzige Begegnung hatte Hirtmann genügt, um zu verstehen, dass Martin ihm viel ähnlicher war, als er dachte. Er hätte ihn gern von ihrer Wahlverwandtschaft überzeugt, aber dass Martin häufig an ihn dachte, war ja schon etwas. Er spürte, dass Martin einer war, der wie er selbst die Banalität der modernen Freizeitbeschäftigungen verachtete, das stupide Konsumdenken der Generation von heute, die Armseligkeit ihrer Interessen und ihrer Neigungen, ihre seichten

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