Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
das ist nicht alles.“
Mit einem Male war sie höchst aufmerksam. Da war etwas in der Stimme von Drissa Kanté.
„Ich … ich habe ihm jemanden nachgeschickt … Er hält sich für sehr clever. Aber ich bin cleverer als er. Als ich ihm gestern den USB-Stick gegeben habe, habe ich eine meiner Freundinnen gebeten, sich auf der anderen Straßenseite zu verstecken und ihn zu verfolgen, wenn er das Café verlässt. Er hatte sein Auto ziemlich weit weg abgestellt, und er hat sich ständig umgedreht, aber meine Freundin ist auch ziemlich pfiffig. Sie weiß, wie man sich unsichtbar macht. Sie hat gesehen, wie er in ein Auto gestiegen ist. Und sie hat sich das Kennzeichen notiert.“
Sie richtete sich auf, als hätte sie der Huf eines Pferdes in der Nierengegend getroffen. Sie verrenkte sich, um aus der Nachttischschublade einen Kuli herauszunehmen, und überprüfte auf dem Handteller, ob er auch tatsächlich schrieb.
„Schießen Sie los, Kanté, ich höre.“
Es war zwei Uhr morgens, als Margot in ihr Zimmer zurückkehrte, erschöpft und mit den Nerven am Ende. Womöglich hatte sie gerade den verrücktesten Abend ihres Lebens erlebt. Sie fragte sich, ob das, was sie dort oben am Ufer des Stausees gesehen hatte, wirklich passiert war. Und ob es wichtig war. Aber eigentlich konnte es gar nicht anders sein. Sie hätte nicht erklären können, warum, aber dieser Anblick hatte ein tiefes Unbehagen bei ihr hinterlassen, ein ominöses Vorgefühl auf eine baldige Katastrophe. Und außerdem waren da diese Drohungen von David und sein Versuch, sie zu vergewaltigen, die Notiz an ihrem Schließfach, das Getuschele, das Elias und sie mitangehört hatten …
Dazu noch das, was dort oben im Auto zwischen Elias und ihr vorgefallen war. Diese plötzliche Anwandlung. Bis heute Abend wäre ihr nie in den Sinn gekommen, dass Elias sich zu ihr hingezogen fühlen könnte. Als sie neulich nachts nur in Unterwäsche die Tür aufgemacht hatte, hatte er ihren Körper keines Blickes gewürdigt … Und bis heute Abend hatte sie sich von ihm auch nie angezogen gefühlt … Sie erinnerte sich auch an den Zorn in seinen Augen, nachdem sie ihn geohrfeigt hatte. Sie bedauerte diese Geste. Sie hätte ihn zurückweisen können, ohne ihn zu demütigen. Die Atmosphäre auf der langen Rückfahrt war unangenehm gewesen; Elias hatte sich in Schweigen gehüllt – und er hatte es geflissentlich vermieden, sie anzusehen.
Sie dachte wieder an den Kuss. Ein unfreiwillige, ein strategischer Kuss – aber trotzdem ein Kuss … Vor etwas mehr als einem Jahr hatte sie einen – sehr erfahrenen – Liebhaber im Alter ihres Vaters. Verheiratet, zwei Kinder. Er hatte ihre Beziehung abrupt und ohne jede Erklärung beendet, und sie vermutete, dass ihr Vater seine Hand dabei im Spiel hatte. Seither hatte sie drei Abenteuer gehabt. Insgesamt hatte sie etwa ein halbes Dutzend Männer gekannt. Abgesehen von ihrer ersten desaströsen Beziehung mit vierzehn war Elias mit Sicherheit der unerfahrenste. Seine zahlreichen Fähigkeiten deckten dieses Gebiet nicht ab, das hatte sie deutlich an der Art und Weise gespürt, wie er sie geküsst hatte. Wieso hatte sie dann so große Lust, so schnell wie möglich weiterzumachen?
Sie wusste, dass der Stress, die Erregung und die Angst dabei eine Rolle gespielt hatten. Aber das war nicht die einzige Erklärung. Auch wenn er unbeholfen war, auch wenn sein Verhalten bizarr und unvorhersehbar war – sie musste sich eingestehen, dass ihr Elias gefiel. Dann kehrten ihre Gedanken zu etwas anderem zurück.
Sie musste ihren Vater benachrichtigen.
Auf die eine oder andere Weise stand das, was sie gesehen hatten, im Zusammenhang mit dem, was ihrer Lehrerin zugestoßen war, davon war sie überzeugt. Sie musste sich darauf konzentrieren. Seltsam, aber sie fühlte sich unter entsetzlichem Zeitdruck. Warum rief er sie nicht an? Ihre Gedanken wanderten hin und her. Ihr Vater, Elias … sie stellte sich vor, wie der in seinem Zimmer Trübsal blies, und plötzlich hatte sie das Bedürfnis, ihm zu sagen, dass ihr das, was zwischen ihnen passiert war, auch nicht gleichgültig war. Sie nahm ihr Smartphone und tippte eine Nachricht:
[Bist du da?]
Es dauert lange, bis die Antwort kam:
[?]
[Treffen wir uns unten, in der Eingangshalle]
[?]
[Ich muss dir etwas sagen]
[Keine Lust]
[Bitte]
[Was willst du?]
[Sag´s dir unten]
[Kann das nicht warten?]
[Nein. Wichtig. Ich weiß, dass ich dich verletzt habe. Ich bitte dich als Freund]
Keine
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