Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
wurde ihm übel.
„Martin …“, wollte sich Ziegler einschalten.
„Habt ihr das alles hier so vorgefunden?“, fragte er Bécker.
„Ja. Türen und Fenster standen offen. Die Lampen waren eingeschaltet. Ah ja … und da war Musik …“
„Musik?“
Er erstarrte. Bécker drückte auf einen Knopf an der Stereoanlage, und die Musik ertönte. In voller Lautstärke. Mahler … Blech und Violinen tobten durch das gesamte Haus, hallten über die Lautsprecher in sämtlichen Zimmern wider; untermalt von dem hohen Timbre der Triangeln, dem tieferen Ton der Celli, stürzte das gesamte Orchester der finalen Katastrophe entgegen.
Servaz erschrak. Er hatte das Stück erkannt: das Finale der Sechsten, die Musik der Niederlage; seiner Niederlage – #Adorno selbst nannte sie eine „Ballade des Unterliegens, denn Nacht ist jetzt schon bald.“
Er glitt an der Mauer entlang und setzte sich auf den Boden. Er zitterte am ganzen Körper. Die anwesenden Gendarmen sahen ihn verständnislos an. Dieser Polizist hatte doch schon ganz anderes erlebt. Sie stoppten die Musik. Und da hörten sie sein Schluchzen. Es machte sie verlegen, als dürfte ein Polizist nicht weinen, zumindest nicht vor seinen Kollegen – und noch weniger im Dienst. Im nächsten Moment hörten sie, wie er in brüllendes Gelächter ausbrach, und da sagten sie sich, dass er übergeschnappt war. Er wäre nicht der Erste. Sie waren keine Roboter; sie mussten den gesamten Unrat der Welt ertragen; sie waren lebende Abwasserkanäle, die die Scheiße sammelten und sie so weit wie möglich vom Rest der Bevölkerung wegtransportierten. Aber nie sehr weit. Die Scheiße kehrte immer zurück.
Und dann sahen sie, dass er ein Papier in der Hand hielt, ein Papier, das er auf einem Möbelstück gefunden hatte. Sie sahen sich an, sie brannten darauf, es zu lesen, aber sie wagten es nicht. Auf dem Blatt stand:
„ Sie hat dein Vertrauen und deine Liebe verraten, Martin. Sie verdiente es, bestraft zu werden.“
Epilog
Sommer 2010. Spanien.
Es war heiß. Unter den blumengeschmückten Balkonen und Laternen ging er langsam die gepflasterten Straßen hinunter zur Plaza Major, und in der heißen spanischen Nacht begegnete er Dutzenden von glücklichen Menschen. Merkwürdig, sagte er sich, wie ein simples Fußballspiel Millionen von Menschen ein paar Stunden lang glücklich machen kann.
Die Straßen rochen nach Seife, nach Eau de Toilette, nach Bier, Wein und Schnaps, nach Zigarren, nach den Knallkörpern, die die Kinder gezündet hatten, und der Hitze, die die Mauern tagsüber gespeichert hatten. Als er durch die tanzende, singende, ihre Freude herausschreiende Menge schwankte, hörte er von den Balkonen über sich den hysterischen Redefluss der iberischen Fernsehmoderatoren, der immer wieder von dem Geschrei aller laut jubelnden Städte Spaniens übertönt wurde.
Die Plaza Mayor war ringsherum von Arkaden gesäumt, und ihre Fassaden waren mit Fresken aus dem 13. Jahrhundert verziert. Sie glich mit ihren leuchtenden Farben dermaßen einer italienischen piazza , dass mehrere Nudelhersteller sie als Szenerie für ihre Werbespots benutzten. Dieser Gedanke ließ ihn lächeln, ein gespenstisches Lächeln, das vielleicht auch der Tatsache geschuldet war, dass er seit fünf Uhr nachmittags betrunken war – und jetzt war es nach Mitternacht. Trotzdem waren viele Menschen auf dem Platz, darunter auch viele Kinder. Er ließ sich auf den einzigen freien Stuhl fallen.
„Du hast getrunken“, sagte Pedro, während er das Glas absetzte und ihn mit seinen lachenden großen blauen Augen anstarrte:
„Mhm … Was nimmst du?“
Pedro zeigte auf sein leeres Glas, in dem nur noch ein paar Schaumstreifen waren.
„Das Gleiche.“
Er sah, dass sich sein Freund anschickte, seine Meinung über die französische Nationalmannschaft kundzutun. Er liebte es, Servaz damit aufzuziehen.
„Sie haben also den Trainer gefeuert?“, fragte Pedro.
„Noch nicht“, antwortete Servaz.
„Und dieser Spieler, der ihn beleidigt hat, und die, die im Training gestreikt haben, werden sie bestraft?“
Sein neuer Freund schüttelte den Kopf in fast bewundernder Ungläubigkeit über die maßlose Dummheit, die die Mannschaft des Nachbarlandes an den Tag gelegt hatte. Servaz lächelte beinahe überschwänglich: Es gab nur ein einziges Land, in dem Spieler-Millionäre imstande waren, während einer Fußball-WM zu streiken: seines. Er hatte plötzlich Durst. Halb torkelnd richtete er sich auf und ging in das
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