Kindheitsmuster
Lutz, wenn er Frauen und Mädchen »anständig« nennt, meint am ehesten »unverdorben«; bei Männern sagt er, »in Ordnung«. Lenka ihrerseits wußte es zu schätzen, wenn er ihr Haar mit beifälligen Blicken musterte und sie dann fragte, wie lang sie es nun eigentlich noch wachsen lassen wollte; oder wenn er ihr erzählte, wie ihre Eltern sich in ihren jungen Tagen – als du noch ganz tief imGroßen Teich geschwommen bist – abends, wenn sie zu dritt aus einem Kino kamen, immer ausgerechnet unter den Straßenlaternen küssen mußten.
Was er aber jetzt zu erzählen anfing, wußte sie gar nicht zu schätzen, sie versuchte sogar, ihn am Weiterreden zu hindern. Aber Lutz hatte es sich in den Kopf gesetzt, diese Geschichte ausgerechnet jetzt zu erzählen, und sei es, um zu zeigen, daß auch er manches gesehen hatte, als er zehn war. Er behauptete übrigens steif und fest, du müßtest sie kennen, aber du kanntest sie nicht, und euren Streit darüber versuchte Lenka auszunutzen, ihn von der Geschichte abzubringen, die ihr nach den ersten Andeutungen schon gründlich mißfiel. In der ersten Oberschulklasse mußte es wohl gewesen sein, als Lutzens Klassenkamerad Kalle Peters seinem anderen Klassenkameraden Dieter Binger, genannt »Dingo«, beim Soldatenspielen nachmittags in den Bauch schoß, mit einem alten Armeerevolver, den er hier oben, auf dem Truppenübungsplatz hinter dem Stadion, gefunden haben wollte. Da kanntest du die Geschichte wieder, und der Schweiß brach dir aus.
Lutz erzählte, wie Kalle Peters vor der Klasse vom Klassenlehrer systematisch verprügelt wurde, wie sie ihn dann vor den Direktor schleppten, der ihn schlug, bis er nicht mehr stehen und nicht mehr gehen konnte. Mit Dingo stand es indessen auf des Messers Schneide, aber er kam durch, du wußtest es wieder. Dir fiel sogar ein, warum sie ihn »Dingo« nannten, und du wußtest nun auch, warum du diese Geschichte von einem zum anderen Mal vergessen mußtest: Weil dir nichts so zuwider ist wie die Vorstellung, daß ein Mensch systematisch geprügelt wird und nichts dagegen machen kann,und auch keiner von denen, die zusehen – fast immer sehen welche dabei zu –, etwas dagegen tut.
Ein Blick auf Lenka überzeugte dich, daß sie vielleicht nicht deine Hände, wohl aber diesen beinahe krankhaften Widerwillen von dir geerbt hat, den sie jetzt hinunterschluckte, denn die Zeit, da sie von euch verlangte, ihr solltet die schrecklichen Ereignisse rückgängig machen, von denen sie Kenntnis bekam – den toten Vogel wieder lebendig, den bösen Zauberer gut machen –, die Zeit war lange vorbei.
Irgendwann im Laufe dieses Tages würde sie einen unerklärlichen, übertriebenen Wutausbruch haben – er kommt mittags, als einer der zahlreichen Westwagen euch rücksichtslos die schattige Parklücke wegnimmt, auf die ihr gewartet hattet, und als sie das Seitenfenster hinunterdreht und zu dem grinsenden Fahrer hinüberschreit: Sie gottverdammter blöder Heini, Sie! –, aber über diese Geschichte wird sie nie wieder ein Wort verlieren. Du weißt inzwischen genauer als damals, wie selten du dabei bist, wenn ihr etwas zustößt, worauf sie nur mit Schweigen antworten kann, und wie sehr es, in ihrer Sprache ausgedrückt, »geprahlt« wäre, wenn du behaupten würdest, sie durch und durch zu kennen.
Lutz sagte noch – bei dem Wortwechsel vor dem Stadion –, es habe keinen Sinn, die Weltgeschichte allzu stark auf sich zu beziehen. Es sei sogar eine wenn auch komplizierte Art von Selbstüberschätzung, sich als persönlich betroffen auszugeben und nach dem genauen Ausdruck dafür zu suchen. Du wieder – mit der Versuchung, in seine Interpretation auszuweichen, wohl vertraut – hältst ihm, wenn auch immer seltener, entgegen, er sei nicht bescheiden, sondern unverbindlich. Nüchtern,sagt er, bloß nüchtern und daher weniger anfällig für die politischen Räusche.
Übrigens hat er in den meisten Voraussagen, auf die er sich einließ, recht behalten, soweit es die Sache betraf und entgegen deinem Wunschdenken. Er hat den nüchternen Blick, den er dir nicht zutraut oder nicht zumuten will, als könnte Nüchternheit dir schaden. Vielleicht ist er auch argwöhnisch, weil sich deine Nüchternheit deiner Natur gemäß auf andere Gegenstände richtet als die seine und weil jeder von euch auf einem anderen Gebiet romantisch, sogar sentimental ist: Bei ihm ist es zum Beispiel die Kindheit. Die will er sich nicht beschädigen lassen.
Und in der Tat: Wem würde es
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