Kindheitsmuster
gegessen, sie wird das Geschirr abwaschen – Nelly trocknet ab –, um dann endlich an ihren freien Sonntagnachmittag zu kommen. Die Eltern haben sich zur Mittagsruhe zurückgezogen. Der Saucenfleck, den Nelly auf das frische Tischtuch gemacht hat, ist gebührend gerügt worden, Ungeschickt läßt grüßen. Es ist nicht denkbar, daß irgendein Handgriff geändert oder unterlassen würde, bloß weil die Nachricht einging, der Vater wäre um ein Haar zum Mörder geworden. Ordnung muß sein.
Lutz, der von sich sagen kann, daß er Überspanntheiten ablehnt, warnte vor Übertreibungen. Während H. und Lenka am Stadionrand Beifußstengel abrissen, die sie mitnehmen, trocknen und als Fleischgewürz verwenden wollten (und inzwischen verwendet haben); während du dich an die unbeliebten Heilkräutersammelaktionen erinnertest (hier, am Stadion, standen und stehen riesige Flecken Schafgarbe, auch Johanniskraut und Kamille; die prall gefüllten Beutel am Rad; der mit Zeitungspapier ausgelegte Dachboden, die stickige Hitze, durchsetzt vom scharfen Duft der trocknenden Kräuter; der Blick über die Stadt aus der Bodenluke, Fluß und jenseitige Wiesen, Panorama mit Sonne und großen schnellen Wolkenschatten, überaus deutliches und schönes Bild), hält Lutz sich in deiner Nähe. Kurzer schneller Wortwechsel über die Gefahr, zu weit zu gehen, halblaut geführt. Einigen deiner Bemerkungen glaubt er Absichten entnehmen zu können, mehr noch deinem Schweigen, mehr noch deinem Gesichtsausdruck, den er also immer noch überwacht: seit der Zeit, als er vom jüngeren zum größeren Bruder wurde undeine Art von besorgter Aufmerksamkeit für seine Schwester entwickelte, die niemand ihm aufgetragen hat. Er ist weit davon entfernt, sich einzumischen, Geständnisse zu entlocken, sehr weit davon entfernt, Ratschläge zu erteilen. Was er will – und muß –, ist: warnen. An die Grenzen erinnern. Er spricht behutsam, wie er niemals spricht, wenn er in die Lage kommt, dir ein technisches Problem zu erläutern, die Vorgänge im Innern eines Kraftwerkes zum Beispiel, die ihm keine Geheimnisse zu bieten haben. Versteh mich nicht falsch, sagt er, und du verstehst ihn richtig: Er muß sich Sorgen machen, weil er gezwungen ist zu lieben, was er nicht ganz und gar billigen kann; er will es nicht anders haben, aber er will es ungefährdet haben, nicht verletzbar, nicht ausgesetzt, sondern gewappnet. Also doch anders. Halb und halb ist er sich bewußt, warum du lächelst, wenn er in dieser Art mit dir zu reden beginnt. Halb und halb ist er sich der Unerfüllbarkeit seiner Wünsche bewußt, das macht ihn manchmal etwas hilflos, manchmal ein wenig ärgerlich.
Welche Grenzen also? Halblaut: Zum Beispiel Grenzen dessen, was man mit Lenka bespricht. Und in welcher Weise. Man kann Kinder auch überfordern. Man kann ihnen auch zuviel zumuten. – Du fragst: Und uns? Als wir Kinder waren? Und man uns immer nur diese halben Sätze zumutete? Unverständliche Blicke, an uns vorbei? Geschlossene Türen? Und diese mörderischen Szenen?
Nun. Von diesen Szenen weiß Lutz nichts. Er war im November 1939 sechs Jahre alt, Nelly immerhin zehn, und nicht zum erstenmal tritt dieser Unterschied als bedeutsam hervor. Du gibst ihm also – halblaut, undnach so langer Zeit – ein paar Stichworte. Viel braucht er nicht. In irgendeinem Sinn war er ja doch dabei, ganz überrascht scheint er nicht zu sein. Trotzdem, sagt er schließlich. Ich glaube, daß es für alles Grenzen gibt. Daß sie – die Eltern – jenseits der Grenzen zu bleiben haben, tabu sind.
Eine Forderung, die du, das mindeste zu sagen, verstehst.
Als Lenka und H. ihre Pflanzenstengel im Kofferraum unterbringen, liegen eure vier Hände für ein paar Sekunden nebeneinander auf der Kofferklappe. Das seht euch an, sagt Lenka. So was Verschiedenes ... Sie ärgert sich, wie immer, über die Form ihrer Fingerkuppen: Viereckig, sagt sie, und zu dir: Warum hast du mir nicht deine vererbt? H. entdeckt, daß ihre Finger denen von Lutz ähneln. Pervers! sagt Lenka, das Wort liebte sie damals gerade. Aber sie gibt sich zufrieden. Gegen Lutz hat sie nichts, man merkt es daran, daß sie nicht auf die Idee käme, ihn »Onkel« zu nennen. Es kommt vor, daß jeder den anderen in dessen Abwesenheit »anständig« nennt. Allerdings meinen sie mit diesem Wort nicht genau dasselbe.
Lenka meint am ehesten »gerecht«. Gerechtigkeitssinn war vor zwei Jahren diejenige Eigenschaft, die sie am meisten an einem Menschen schätzte.
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