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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Tränen mißverstanden und ihr als maßlose Freude über die Heimkehr des Vaters ausgelegt, wie fast immer empfing sie falsche Tröstungen und verfehlte Küsse. Es war ihr aber blitzschnell der Gedanke durch den Kopf geschossen: Jetzt wird das Stück »Heimkehr« gespielt; der war der Tränen wohl wert.
    Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man allmählich zu schweigen aufhören. Wir kommen auf das aschgraue Gesicht des Vaters.
    Allmählich muß man abkommen von den Wetterbeschreibungen. Es blieb nämlich in jenem November nicht bei Nebel, es gab sonnige Tage. Der Tag, von dem zu schweigen du aufhören mußt, war sonnig. Es hat sich um einen Sonntag gehandelt, einen Sonntagvormittag zwischen zwölf und halb eins, denn um halb eins wird bei Jordans gegessen, und der Anruf kam kurz vorher. Das Telefon wurde am Abend und sonntags aus dem Laden »umgesteckt« in den Wohnungsflur, wo es auf dem weißen Garderobentischchen stand. Nelly, wie üblich im Kinderzimmer in ihre Bücher vergraben, hörte an des Vaters Stimme, wie er »Leo!« rief, daß er sichfreute über den Anruf seines Freundes Leo Siegmann, der ja in der gleichen Schreibstube der gleichen Infanterieeinheit in einem »öden Kaff« am Westufer des Bug hockte und sich eben am Sonntag vormittag aus reiner Langeweile (klar, bei uns scheint auch die Sonne!) mit seinem Freund, dem Obergefreiten Bruno Jordan, zur Zeit auf Urlaub, verbinden ließ.
    Weiter.
    Das Gespräch hat seine fünf Minuten gedauert. Charlotte Jordan, leicht ungehalten über die Störung ihrer Mittagszeit, rief die Kinder zum Essen. Als Nelly in der Kinderzimmertür genau hinter dem Vater stand, sein Gesicht daher im Flurspiegel sehen konnte, hörte sie ihn ein paar Worte in einem von Grund auf veränderten Tonfall sagen, Frageworte zumeist, die am anderen Ende der Leitung ausführlicher beantwortet wurden.
    Was habt ihr?
    So, wann denn?
    Ach, vorgestern.
    Wieviel, sagst du.
    Dann wiederholte er eine Zahl, die Leo Siegmann ihm wohl genannt hatte. Bürgen könntest du nicht für sie, aber dir scheint, sie lautete: Fünf. (Die Fünf als Fleischerhaken.)
    Weiter.
    Hier erscheint das aschgraue Gesicht des Vaters. Nelly will es im Spiegel gesehen haben. Ein graues verfallenes Gesicht. Sie besteht darauf: Er habe nach dem Ärmel seines feldgrauen Mantels gegriffen, um sich daran festzuhalten. Er habe ganz eilig das Gespräch mit Leo Siegmann beendet. Er sei, knieweich und ohnevon ihr Notiz zu nehmen, ins Eßzimmer gegangen und habe sich auf seinen Stuhl fallen lassen.
    Von hier ab verschlägt es die Sprache. Es wird nicht erinnert und soll nicht erfunden werden, in welchen Worten, auf Grund welcher Fragen Bruno Jordan seiner Frau den Inhalt des Gesprächs mit Leo Siegmann mitteilte.
    Der Inhalt war: Vorgestern hatte seine Einheit polnische Geiseln exekutiert.
    Unverbürgt soll hier stehen: erhängt. Die Zahl Fünf. Und Leo Siegmanns Satz: Schade, daß du nicht hier warst.
    Diesen Satz könntest du wieder in wörtlicher Rede auf deine Kappe nehmen: Schade, daß du nicht dabei warst, hat er gesagt.
    Und daß Charlotte Jordan aufhörte zu essen.
    Und daß er noch später, ebenfalls ungefragt, sagte: So etwas ist nichts für mich.
    Und daß Blicke zwischen den Eltern hin und her gingen, nicht für die Kinder, kaum für einander bestimmt. Eheleute, die ihre Augen voreinander verstecken.
    Das Wort »schauerlich« – es wäre also noch brauchbar? So wollen wir nicht anstehen, nicht nur diese Szene, auch Nellys Empfindungen in dem ihr unbekannten Wort zusammenzufassen: schauerlich.
    Sie schlug die Augen nieder und verriet sich nicht.
    Kein Sterbenswort, ihr Worte. – Weiter. Entblößung der Eingeweide.
    Vielleicht zu den wahren Antworten auf Lenkas Fragen gelangen, die eben, Ende Oktober 73, eine genaue Beschreibung der Judenverfolgung in einer deutschen Kleinstadt liest; die, seit längerem, aus ihrem Wortschatz das Wort »deutsch« verloren hat und dafür sichsteigernde Begründungen gibt: Sie brauche es nicht; sie mache sich nichts daraus; sie lege absolut keinen Wert darauf; sie finde es einfach übertrieben; es sei ihr, genaugenommen, ziemlich zuwider. Die nun, während sie, wie fast immer in den Herbstferien, krank im Bett liegt, hustet, aber Tee, Schals und Einreibungen verweigert und Bücher um sich stapelt, wissen will, wie man »danach« weiterleben kann.
    Dies als Frage. Ein Aussagesatz dagegen: Ihr verlangt eigentlich ziemlich viel von uns.
    Derartiges hat sie vor zwei Jahren nicht

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