Kindheitsmuster
Nachtwäsche und Handtücher zu bringen, die sie dringend benötigte.
Wo war die Mutter?
Nelly machte eine große Szene. Die Mutter war also im Krankenhaus. Operiert. Man hatte sie belogen. Die Mutter hätte sterben können, und sie hätte nicht einmal geahnt, daß sie in Gefahr war. Sie schrie und heulte, bis sie nicht mehr konnte.
Es war einer ihrer letzten Ausbrüche in Gegenwart anderer Leute, ratloser Verwandter, die sie umringten und ihr zuredeten, vernünftig zu sein. Sich zu beruhigen. Und die, nicht ohne sich kopfschüttelnd mit Blicken untereinander zu verständigen, schließlich von ihr abließen, zuletzt der Vater, Bruno Jordan, der ihr den Kopf streichelte und ein ums andere Mal versicherte, er habe ihr Bestes gewollt.
Nelly heulte weiter. Sie wollte den Gedanken nicht erst aufkommen lassen, ihr Vater habe nicht ihr, sondern sein Bestes gewollt: Weil er keine Worte gefunden hätte, um ihr die Wahrheit zu sagen, und weil er sich unter ihren Augen nicht zu benehmen gewußt hätte an dem Tag, an dem die Mutter operiert wurde.
Diese Art von Wortunmächtigkeit. Die einen Menschen in sich selbst einsperrt, ohne daß er über dieses Selbst etwas Näheres wissen kann. Alle diese Leben, über die dir ein Urteil nicht zusteht. Über die manschweigen könnte, wenn nicht sie, gerade sie von den mörderischen Zufällen dieser Zeit besonders abhängig wären.
(Hilflose Gespräche mit Lenka über ihren Großvater.)
Und, auch das noch zu sagen: daß sie sich ein für allemal nicht eignen, ins Kreuzfeuer einer epischen Darstellung zu geraten, Bewährungsproben unterworfen zu werden, sie durchzustehen oder zu versagen ...
In jenem Jahr, als ihr nach Polen fuhrt – das rechnet ihr euch im stillen aus –, seid ihr so alt wie eure Eltern bei Kriegsanfang. Sollte Lenka, wie damals ihr das Leben eurer Eltern, so euer Leben im Grunde für abgeschlossen, euch selbst für ältere Leute halten?
Euch dreien wird auf einmal – und gleichzeitig – klar, daß nirgends geschrieben steht (so würde Charlotte sich ausdrücken), daß das meiste oder »das Beste« schon hinter euch liegt. Es ist ein kurzes, unbegründetes Aufleuchten von Lebensfreude, ein Vertiefen aller Farben, das minutenlang anhält. Es ist nichts, gar nichts, worüber sich etwas sagen ließe. Es ist ein langer Atemzug, es sind ein paar Blicke hin und her (H.s Blick im Rückspiegel). Es ist, daß du deine Hand auf seinen Nacken legen kannst und er seinen Kopf an ihr scheuert. Daß Lutz, der immer singen muß, mit seinem mächtigen Baß losschmettert: Mit dem Pfeil, dem Bogen. Und daß Lenka versteht und nicht versteht und nur den Kopf schütteln kann.
Nichts Schönres unter der Sonne, als unter der Sonne zu sein.
9
Vorgestern, in einer Aprilnacht 1973 – du kommst, einer Umleitung wegen, nicht auf der Hauptstraße, sondern über die Dörfer allein im Auto nach Hause, etwas müde, daher angespannt aufmerksam –, hast du beinahe eine Katze überfahren. Es war auf dem Katzenkopfpflaster einer Dorfstraße. Sie kam langsam von links, du fuhrst nicht schnell, doch reagierte sie überhaupt nicht, wie Tiere sonst, auf das näher kommende Auto; zu stark konntest du nicht bremsen, die Straße war feucht. Du sahst, wie sie sich im Schreck duckte. Was du noch tun konntest: sie zwischen die Räder nehmen. Sie kam unter das Auto. Es gab einen gar nicht lauten, aber gräßlichen Schlag. Du mußtest weiterfahren. Hieltest an, sahst dich um. Da lag sie auf der Straße, erhob sich mühsam. Auf beiden Hinterpfoten hinkend, schleppte sie sich zur anderen Straßenseite, verschwand, anscheinend wieder normal laufend, in der Hecke.
Weit und breit auf der spärlich erleuchteten Dorfstraße kein Mensch, kein Tier, auch kein Verkehr um diese Zeit. Fünf Sekunden zu früh hat sich die Katze oder fünf Sekunden zu spät hast du dich auf den Weg gemacht. Du willst es nicht glauben oder wenigstens nicht wahrhaben, daß dir das passiert sein soll, mußt noch einmal halten, um ruhiger zu werden. Im Schleichtempo nach Hause, kein Wort über den Vorfall. Du gehst schlafen. In einem kurzen englischen Text, den du noch zu lesen versuchst, spricht eine der Figuren, betrunken, untröstlich, immer den gleichen Satz: But I was a nice girl.
Mitten in der Nacht erwachen. Das unstillbare Weinen. But I was ... Alle für immer verlorenen Möglichkeiten versammelten sich in jener Nacht um dich.
Zum »Dienst« in der Hitler-Jugend muß Nelly sich gedrängt haben. In der langen Schlange steht sie
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