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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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gesagt, aber wie soll man wissen, wann sie angefangen hat, es zu denken? Vielleicht in jener Sekunde, als sie im Stadion von L. – heute G. – das Holzkreuz des Eingangs vor euch herumwirbelte? Sie hat die Angewohnheit, neue Schlüsse, zu denen sie gekommen ist, lange für sich zu behalten, um sie dann überraschend, ohne die Zusammenhänge zu erklären und rücksichtslos freizulassen, wie man einen lange eingesperrten wilden Hund auf einmal laufenläßt.
    Daß wir das alles verstehen sollen. Ich jedenfalls, sagte Lenka, ich versteh es nicht. Und bei euch, ich meine, in deiner Generation, könnte nichts Ähnliches ...
    Bei uns? Das?
    Lenka hat die Frage, warum es keine vollkommen glücklichen Erwachsenen gibt, in den letzten zwei Jahren nicht wiederholt. Die Szene, in deren Mittelpunkt Bruno Jordans Satz steht: So etwas ist nichts für mich!, erfährt sie immer noch nicht. Beneidest du sie darum, daß sie niemals in die Lage kam, ihres Vaters Gesicht sich ins Aschgraue verfärben zu sehen? Ja. Eigentlich ja.
    Du erzählst ihr von Nellys Gang zu der niedergebranntenSynagoge, während das Radio, das sie im Hintergrund immer laufen läßt, leise meldet, die USA hätten ihre Truppen in den Staaten, im Pazifischen Ozean und in Europa in eine niedrige Stufe von Alarmbereitschaft versetzt, um einer einseitigen Entsendung sowjetischer Truppen in das Kriegsgebiet Nahost jederzeit gewachsen zu sein. In Chile seien weitere vier Anhänger Allendes zum Tode verurteilt und von einem Hinrichtungskommando erschossen worden. (Wir haben nun auch die Tonbänder mit dem Schreien und Heulen der Frauen aus dem Leichenschauhaus von Santiago noch gehört. Dies ist Fortschritt. Aus einem deutschen Gestapokeller gibt es kein Tonband. Die Zahl der chilenischen Opfer innerhalb von sieben Wochen übertrifft die der deutschen in den ersten sechs Jahren: In Chile wurde bewaffneter Widerstand geleistet.)
    Dabei spürst du, wie durch deine Erzählung nichts verständlicher, eher alles noch verworrener wird. Daß die Akzente sich unaufhaltsam verschieben, auf Schwerpunkten lasten, die erst jetzt, im Laufe des Erzählens, sich bilden ...
    Wie Lenka begreiflich machen, daß an diesen Schwerpunkten vorbei, sogar ohne sie zu beachten, in kräftigen Farben die Kindheit weiterlief? Zum Beispiel die Sammelepidemien, denen Nelly verfiel wie jedermann: Glanz- und Hauchbilder zusammentragen und aus alten Heften, deren Seiten man längs in der Mitte faltete, Steckbücher herstellen, die man zum Tausch der Trophäen benutzte, in jeder Pause, in den Stunden auch unter der Bank, auf die Gefahr hin, das wertvolle Buch könnte konfisziert werden. Blumen gegen Tiere, Abziehbilder gegen Zigarettenbilder.
    In die Poesiealben aber schrieben wir dasselbe wie ihr, Lenka: »Kerker, Stahl und Eisen bricht, aber unsre Freundschaft nicht!« (Während ja, als der Krieg fortschritt und gewisse unglaubliche Informationen die lange Zeit ungläubige Welt erreichten, Überlegungen angestellt wurden, ob es nicht angebracht, ja vielleicht notwendig sein würde, nach dem Kriege alle deutschen Kinder zu vernichten. Der Pole Brandys schildert, wie ein älterer Verwandter diese Idee ausspricht und wie seine Mutter ihn nachdenklich ansieht und dann sagt: Aber du bist ja anomal ...) Schrieben aber auch Sprüche des Führers hinein. Nellys Freundin Hella Teichmann bevorzugte den folgenden: »Wer leben will, der kämpfe also. Und wer nicht kämpfen will in dieser Welt des ewigen Ringens, verdient das Leben nicht!«
    Was beweist das alles? Nichts. Für die zähe Fortdauer der Wonnen der Gewöhnlichkeit bedarf es heutzutage keines Beweises mehr, und Erklärungen scheint man aufgegeben zu haben. Die Bücher jedenfalls, die sich auf deinen Tischen häufen und die du gewissenhaft, aber nicht mehr neugierig durchliest, berühren diesen Punkt nicht (von Ausnahmen abgesehen). In ihren richtigen Verallgemeinerungen muß sich niemand wiederfinden, könnte Lenka niemanden wiederfinden. Keinen einzigen Hinweis, wie man derartige Szenen aus deutschen Familienzimmern (aus zahllosen deutschen Familienzimmern, steht zu vermuten, aber da versagt die Statistik) zu beenden hat. Tischgebete gab es bei Jordans nicht, kaum die gängige Formel »Mahlzeit« oder die Frage der Kinder, ob sie aufstehn dürften. Formlos wurden die Mahlzeiten eingenommen, formlos beendet. Man stand auf und schob die hochlehnigen schwarzenStühle unter den Tisch. Die Kinder räumen ab. Annemarie, das Mädchen, hat in der Küche

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