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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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schaden, wenn du die Sache auf sich beruhen ließest? Wer würde etwas vermissen?
    Denn in dem nüchternen Gegenwartsblick, den du auf die Vergangenheit richtest und der vor nicht langer Zeit von Abneigung, ja Haß getrübt gewesen wäre, liegt Ungerechtigkeit in Hülle und Fülle. Mindestens soviel wie Gerechtigkeit. Objekte, hilflos unter Glas gefangen, ohne Kontakt zu uns nachgeborenen Besserwissern. Und wenn du dich fragst, ob du es aushieltest, diesen selben Blick ungemildert gegen dich selbst zu richten ...
    Bruno Jordans Aussage: So etwas ist nichts für mich! ist bemerkenswert. Heute erst bist du imstande zu sehen, daß das Gesicht jenes Novembertages, das Nelly für Sekunden im Flurspiegel sah, sieben Jahre später ausgeprägter wieder hervortrat, als er aus der Gefangenschaft kam. Die Unkenntlichkeit des eigenen Vaters war es, die Nelly erschütterte. Erst Jahre später begriffsie, daß er in jenen kurzen Zeiten kenntlich gewesen war.
    Das ist nichts für mich, sagt man schnell, aber nicht in diesem – wie bezeichnet man ihn: verzweifelten? – Ton.
    Man muß wissen, daß Bruno Jordan gewisser Worte nicht mächtig war. Natürlich konnte er exakt und mit Bestimmtheit, die sonst seine Stärke nicht war – den Vertretern der großen Firmen, die alle sehr bescheiden in seinen Laden kamen und in dem schmalen Durchgang beim Telefon auf ihn warteten, bis er seine Kunden bedient hatte, und die alle taten, als sei er ihr enger Freund (was er manchmal zu glauben schien): natürlich konnte er ihnen die genauen Zahlen nennen, was die Nachbestellung von Zucker, Nudeln und Maggi’s Suppenwürze betraf; natürlich sprach er am Sonnabend mit seiner Frau sachkundig über die Wochen»losung«, die sich übrigens auf einer befriedigenden, keineswegs schwindelnden Höhe hielt, wenn man von den Gewinnabnahmen als Folge der Zwangsbewirtschaftung von Lebensmitteln in den letzten Kriegsjahren absehen will. Natürlich waren die Verhältnisse seiner Kundschaft ihm ein geläufiger Gesprächsstoff. Mit Kindern sprach er kindertümelnd und nicht über ernsthafte Gegenstände – so wie Erwachsene, die sich nicht vorstellen, daß Kinder jemals Erwachsene werden, mit Kindern eben reden. Als sei nur der Erwachsene ein vollwertiger Mensch.
    So hielt er es, um ein Beispiel zu geben, für angezeigt, seine Kinder – besonders aber seine Tochter Nelly, deren Angst um die Mutter er zur Genüge kannte – nicht davon zu unterrichten, als Charlotte Jordan sich endlichzur operativen Entfernung ihres Kropfes hatte entschließen müssen, die im Städtischen Krankenhaus unter der sachkundigen Leitung des Chefarztes, eines Doktor Leisekamp, bei örtlicher Betäubung vorgenommen wurde, wobei die Patientin, um eine Verletzung ihrer Stimmbänder weitgehend auszuschließen, ununterbrochen sprechen mußte, zwei Stunden lang, von denen sie eine mindestens auf eine Konversation mit dem Operateur verwendete. (Nur bei den Höhepunkten des Eingriffs, wenn der Arzt sich konzentrieren mußte, bat er sie, zu zählen oder Gedichte aufzusagen, was sie unerschrocken tat: »Urahne, Großmutter, Mutter und Kind in dunkler Stube beisammen sind« – ein Text, den der Arzt nicht kannte und zweimal zu hören wünschte: »Vier Leben tötete ein Schlag. / Und morgen ist Feiertag.«) Eine Konversation, die dem Chefarzt am Ende die Bemerkung abnötigte: Diese Frau kann mehr als Brot essen (was sie allerdings danach mindestens drei Wochen lang nicht konnte, man flößte ihr Suppen aus Schnabeltassen ein). Dieser Satz verknüpfte ihre Mutter in Nellys Kopf auf vertrackte Weise mit der Königin Luise, die ihr gerade zum erstenmal im Geschichtsunterricht begegnete: Jeder Zoll eine Königin!
    Was die Kinder zu hören kriegten, war: Ihre Mutter war zu Tante Trudchen Fenske nach Plau am See gefahren. Eine plausible Erklärung. Man konnte, ohne sie direkt zu erwähnen, an die Gerüchte anknüpfen, die in der Familie über Tante Trudchens bröckelnde Ehe umliefen und auch den Kindern zu Ohren gekommen sein mußten. Niemand, auch Nelly nicht, konnte sich einen besseren Helfer in allen Familienangelegenheiten vorstellen als Charlotte.
    Nun beging eben leider Erwin, der Lehrling, die Ungeschicklichkeit, seinem Chef – der sich für kurze Zeit an den Geburtstagskaffeetisch von Schnäuzchen-Oma, seiner Schwiegermutter, gesetzt hatte: es war also Oktober, Oktober 40 – in Gegenwart von Nelly mitzuteilen, er solle gleich nochmals zum Krankenhaus fahren, um der Chefin frische

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