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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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vor der Turnhallentür, hinter der die bedeutsame Prozedur der Einschreibung vor sich ging: Bald darauf sitzt sie in einem Klassenzimmer. Der erste Heimabend findet statt, mit den anderen singt sie: »In dem Walde steht ein Haus«, ein Kinderlied, dessen sehr einfacher Text mit Handbewegungen begleitet wird. Der Vorgang war peinlich, und Nelly genierte sich, aber sie unterdrückte ihre Befangenheit und lachte laut – vielleicht überlaut – mit, als die Führerin in fröhliches Gelächter ausbrach. Es war eine Genugtuung, der Führerin zu Gefallen zu lachen und den eigenen unangemessenen Zustand – Verlegenheit – nicht zu beachten. Es war eine Lust, die Leutseligkeit der Führerin zu genießen, die ein lustiges Mädchen war und Marianne hieß, sich aber Micky nennen ließ: Nennt mich Micky wie alle, ich sehe ja doch aus wie eine Mickymaus. Eine andere Art von Lust, sich am Ende des Heimabends, die Scheu überwindend, mit den anderen um Micky zu drängen, ihre Hand zu ergreifen, die unerhörte Vertraulichkeit auszukosten. Und auf der Heimfahrt sich durch häufigen inneren Gebrauch des neuen Wortes zu versichern: Kameradschaft.
    Ein gehobenes Dasein stand ihr also bevor, jenseits des kleinen, rundum mit Fischbüchsen, Zuckersäcken, Broten, Essigfässern, Würsten verstellten und verhängten Ladenraumes, jenseits der hellen Lichtvierecke, die er auf das kurz geschorene Rasenstück hinauswarf; jenseitsund abseits auch von der weißen Gestalt im Ladenmantel, die vor die Tür getreten war und sicher schon lange nach ihr, Nelly, Ausschau hielt. Wo sie denn so lange bliebe. Sie solle sich bloß gründlich die Schuhe abputzen, man habe sie ja wohl durch sämtliche Pfützen gejagt. Was sie denn gemacht hätte. Gesungen? Singen kannst du auch zu Hause.
    Kein Wort von »Kameradschaft«. Sie putzte sich die Schuhe ab. Dort, wo Micky mit ihnen sang und spielte und marschierte und Geländespiele machte – da gab es etwas, was die Mutter ihr nicht geben konnte und was sie nun mal nicht missen mochte, obwohl oder gerade weil sie niemals aufhörte, sich unter den anderen fremd zu fühlen. Weil immer wieder diese Verlegenheit in ihr aufkam, bei allen möglichen Gelegenheiten, die die anderen gar nicht als Prüfung erkannten, und weil diese Verlegenheit und die Selbstüberwindung, die sie immer wieder aufzubringen hatte, ihre Schwäche aufdeckte und die ungeheure Strecke anzeigte, die sie noch zurückzulegen hatte, ehe sie der Mensch war, den Micky aus ihr machen wollte.
    Es ging um Härte. An dem Tag, als die Mutter aus dem Krankenhaus entlassen wurde, fand ein Geländemarsch statt. Nelly hatte sich auf die Rückkehr der Mutter gefreut wie auf nichts sonst. Der Vater erbot sich, sie bei Micky wegen Rückkehr der kranken Mutter nach einer gefährlichen Operation zu entschuldigen. Nelly haßte Geländemärsche, bei denen sie sich sehr langweilte. Aber sie bestand natürlich darauf, an diesem Marsch teilzunehmen, ungeachtet der Verstimmung, die sie dadurch verschuldete. Sie lehnte auch das Angebot von Schnäuzchen-Oma ab, vorsorglich ihreHacken zu bepflastern, weil man sich doch bei diesen Märschen immer die Füße wund lief.
    Als sie nach Hause kam, lag die Mutter auf der Couch, und sie mußte quer durch das Zimmer auf sie zuhumpeln. Ihre besorgte Frage und die aufgebrachte Erklärung von Schnäuzchen-Oma. Nelly stritt ab. Sie ereiferte sich am Widerspruch, steigerte sich zu der Behauptung, die Blasen an ihren Füßen seien von vorgestern, sah, wie die Mutter sich aufregte, konnte nicht aufhören, nicht einlenken, duldete keine Kritik an dem widerwärtigen Geländemarsch. Bis schließlich sie, dann Charlotte, die sich schonen sollte, in Tränen ausbrach und Schnäuzchen-Oma, die selten eine Handlungsweise ihrer Lieblingsenkelin mißbilligte, Nelly ins Kinderzimmer folgte, um ihr zu sagen, wenn sie ihre Mutter derart aufrege, werde die kaum verheilte Wunde wieder aufbrechen.
    Nelly fühlte scharf die Zwangslage, aus der es keinen Ausweg gab. Was sie auch tat, es wäre schlecht. Eine Art Sackgasse. (Viel später erst, heute, weißt du, was jene »unlösbaren« Konflikte bedeuten: Daß man sich zwischen zwei einander ausschließenden Arten von Moral, die man beide auf sich bezieht, entscheiden muß, um nicht zerrieben zu werden.) Nelly, fassungslos, hörte zu schluchzen auf, gewöhnte sich das Weinen beinahe ab. Sie wurde tapfer und beherrscht. Das wurde anerkannt, übrigens auch von ihrer Mutter.
    Im Herbst wurde sie krank. Sie

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