Kindheitsmuster
muß sich bei einem längeren Appell unter freiem Himmel erkältet haben, auf der Spielwiese im Zanziner Wäldchen, das ihr am Nachmittag eures ersten Reisetages besuchen werdet. Diesmal verstand es sogar Charlotte nicht. Der Nachmittagwar warm gewesen, selbst sie hätte gegen einen längeren Aufenthalt im Freien nichts einzuwenden gehabt. Aber Nelly fieberte schon, als sie nach Hause kam, und zeigte eine seltsame Abneigung, zu sprechen oder sich überhaupt zu bewegen. Eine Bronchitis, fand Doktor Neumann, sei nichts Weltbewegendes, doch sei ihr Verlauf mit Sorgfalt zu beobachten. Diese Schlaffheit wollte ihm an der Göre nicht gefallen. Oder war da vielleicht noch etwas außer der Krankheit?
Nicht daß Charlotte gewußt hätte.
Die Versammlung unter freiem Himmel war ein Strafgericht. Eine Kameradin namens Gerda Link hatte die Ehre der Hitler-Jugend beschmutzt: Sie stahl einer anderen Kameradin aus deren Manteltasche in der Umkleidekabine des Sportplatzes Klosepark fünf Mark neununddreißig und leugnete den Diebstahl vor der Gruppenführerin Christel, als diese sie zur Rede stellte. Man hatte sie überführen können. Jetzt stand sie allein neben der Gruppenführerin an der Schmalseite des Karrees, dessen drei andere Seiten durch die in Reih und Glied aufgestellten drei Scharen der Jungmädelgruppe gebildet wurden.
Am Anfang sangen sie: »Nur der Freiheit gehört unser Leben.« (»Freiheit ist das Feuer, ist der helle Schein, solang sie noch lodert, ist die Welt nicht klein.«) Danach stellte sich die Scharführerin Micky mit ihrem krausen rotblonden Haar, ihrer scharfen Brille, ihrer Himmelfahrtsnase und dem geflochtenen Zopf in die Mitte und rief:
Vom Ich zum Wir. Von Heinrich Annacker.
Einst schien das Ich der Angelpunkt der Welt,
und alles drehte sich um seine Leiden.
Doch mählich kam erkennendes Bescheiden
und hat den Blick aufs Ganze umgestellt.
Nun fügt das Ich dem großen Wir sich ein
und wird zum kleinen Rad an der Maschine.
Nicht, ob es lebe – ob es willig diene ,
bestimmt den Wert von seinem eignen Sein!
(Diesen Text schreibst du ab, die Lieder fallen dir ein, wenn auch nicht mühelos, wenn auch manchmal nicht alle Strophen, oder gerade die Anfänge nicht mehr. Auf H. ist kaum Verlaß, in seinem Gedächtnis sind die ungeliebten Texte verwittert bis auf wenige, meist verballhornte Zeilen, die er nie verstanden und ohne Verstand gesungen hatte, stumm sich wundernd. Lenka verträgt diese Lieder nicht, auch nicht als Beweisstücke, vertrug sie nie. Stellte sich taub, als ihr auf der Rückfahrt aus L., das heute G. heißt, die Texte zusammensuchtet, die den Zug, den Ritt, den Marsch der Germanen, der Deutschen nach Osten verherrlichten oder forderten: »Gen Ostland geht unser Ritt.« – »Siehst du im Osten das Morgenrot?« – »In den Ostwind hebt die Fahnen.« Und so weiter. Lenka sagte: Die müssen ganz schöne Komplexe gehabt haben. – Dankbar vermerktet ihr ihren Takt, nicht »ihr«, sondern »die« zu sagen. Und die Polen? Wie viele Lieder hatten sie, die sie aufriefen, ihre Fahnen in den Westwind zu heben?)
Doch es steht noch immer die Jungmädelgruppe Nordwest im Zanziner Wäldchen angetreten, und es wartet Gerda Link auf ihr Urteil, das von Christel, der Gruppenführerin, selbst verkündet werden wird. Als Christel nun einen Schritt vortritt und zu reden beginnt, läuft Nelly der Schweiß in Strömen den Rücken hinunter (das ist es, was Charlotte Jordan nicht einkalkulierenkonnte: Schweißausbruch im Stehen, bei leichtem Wind von hinten). Christel hat farbloses Haar, trägt eine Innenrolle, hat leuchtende Augen. Im Zustand der Begeisterung bekommt sie eine hohe, klingende Stimme und zieht die Vokale pathetisch lang, doch ist ihre Redeweise durch einen Zahnregulierungsapparat behindert. Sie lispelt. Neben Christel ist Micky eine untergeordnete Gottheit. Christels Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen ist das Höchste oder, falls es im Zorn geschieht, das Schlimmste, was einem widerfahren kann.
Aber Christel weiß ihren Zorn zu bändigen und zeigt Trauer und Enttäuschung, die viel schrecklicher sind. Sie dämpft ihre Stimme, sie erträgt den Schmerz fast nicht, den Gerda Link ihr, ihr ganz persönlich angetan hat; die Schmach, die sie auf jedes einzelne Glied ihrer Gemeinschaft gehäuft, die Schande, die sie über alle, besonders aber über ihre Führerin gebracht. Sie ist weit davon entfernt, ein Jungmädel für immer aus der Gemeinschaft ausstoßen zu wollen, was es auch getan
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