Kindheitsmuster
haben mochte. Doch hält sie es für notwendig und angemessen, der Gestrauchelten für ein Vierteljahr das Zeichen ihrer Zugehörigkeit zum Jungmädelbund, das schwarze Dreiecktuch und den Lederknoten, zu entziehen.
Es tritt die Schaftführerin von Gerda Link vor, eine dralle kleine Person mit krummen Beinen, gegen die Gerda Link schön ist: Sie hat ein längliches Gesicht, bräunliche Haut, eine schmale, feine Nase und dunkles langes Haar. Die Schaftführerin nimmt der Gemaßregelten Schlips und Knoten ab, während wiederum Micky mit lauter, angestrengter Stimme über die Spielwiese ruft: Deutsch sein heißt treu sein!
Bleibt noch ein Lied zu singen, das Lied der Hitler-Jugend: »Vorwärts, vorwärts, schmettern die hellen Fanfaren, vorwärts, vorwärts, Jugend kennt keine Gefahren, Deutschland, du wirst leuchtend stehn, mögen wir auch untergehn ...« (Ein paar Bemerkungen darüber, wie diese Lieder teilweise doch recht behielten: Untergegangen sind viele, die sie sangen. »Unsre Fahne führt uns in die Ewigkeit, unsre Fahne ist mehr als der Tod.«)
Nellys Empfindungen beschreiben, als sie nach Hause fuhr, mit ihrem alten klapprigen Rad, die Adolf-Hitler-Straße runter, dann die Anckerstraße hoch, eine beachtliche Steigung, die sie nahm, ohne absteigen zu müssen, schwitzend natürlich und die Kletterweste nicht zugeknöpft, tief die gegen Abend rauhere Luft einholend: Ihren Zustand schildern erübrigt sich fast. Schrecken, Verzweiflung zu sagen wäre zu stark, und daß sie Angst hat, darf sie nicht wissen wollen. Nach ihrer eigenen Überzeugung hätte sie Abscheu gegen Gerda Link fühlen müssen, nicht dieses weichliche Mitleid, und Begeisterung über die Gradlinigkeit der Führerin anstatt eben Angst. Wie öfter schon handelte es sich um die Unmöglichkeit, sich Klarheit zu verschaffen. Da kam das Fieber, sie konnte sich zu Bett legen.
Im Fieber sah Nelly das bräunliche Gesicht von Gerda Link, ihr krauses Haar, das aus den grellgrünen Zopfhaltern sprang, ihre tiefroten Lippen. Sie war bestürzt, als sie sich eingestand, daß sie nicht zum Dienst gehen wollte, bis Gerda Link Dreiecktuch und Knoten wiederbekommen hatte. Sie förderte es durch Verstellung, daß Doktor Neumann, mit dem die Mutter im Flur eine geflüsterte Unterhaltung geführt hatte, ihr einAttest ausstellte, das sie wegen »chronischer Anfälligkeit der oberen Atemwege« für den ganzen Winter von der Teilnahme am Dienst entband. Sie ging allen aus dem Wege. Einmal stieß sie auf Micky; der erklärte sie wortreich, sie sei schwerkrank gewesen, der Arzt habe eine »doppelseitige Lungenentzündung« befürchtet. Dann fragte sie sich gleich ärgerlich, warum doppelseitige, warum durch Übertreibung die Glaubwürdigkeit der Aussage in Frage stellen? Der Verdacht, Micky könnte sie durchschaut haben, quälte sie lange. Es war ihr ganz klar, daß sie versagt hatte.
Im März, an einem der letzten kalten Tage, fing Micky sie ab und eröffnete ihr, man wolle sie als Führerinanwärterin vorschlagen.
Die Wahrheit über sich selbst nicht wissen zu wollen, behauptet der Pole Brandys, sei der zeitgenössische Zustand der Sünde; solche Aussagen, die genausoviel über ihren Autor wie über ihren Gegenstand verraten, sind nicht überprüfbar, auch nicht widerlegbar. Dir leuchten sie ein; was nicht bedeutet, jene »Erlösung durch Selbstbewußtsein«, die er anstrebt, müsse gelingen, und man werde sich der Demaskierung durch die Wirklichkeit gewachsen zeigen.
Wie allmählich die einander überschneidenden und überlagernden Notizbücher, Tagebücher, Zettel auf deinem Schreibtisch sich häufen, die begrenzte Zeit, die dir gegeben ist, von einer Arbeit verbraucht wird, deren Ergebnis derart zweifelhaft bleibt, ein wachsender Papierstapel zunehmend Druck auf dich ausübt: Währenddes offenbart sich immer deutlicher die Unfähigkeit, das stetig und unbeirrbar weiterwuchernde Material (der Grießbrei, der dem Kind aus dem Töpfchenkocht und zuerst sein Zimmer, dann sein Haus, schließlich die Straße füllt und die ganze Stadt zu ersticken droht) zu bewältigen im Sinn von »deuten«.
Dabei würde im Augenblick nichts anderes benötigt als eine Erklärung »ohne Umschweife« für die Tatsache, daß Nelly, gegen den erklärten Widerstand der Mutter, Mickys Angebot annahm.
Bezeichnend, daß diese Erklärung immer noch nicht fertig vorliegt. Ehrgeiz, Geltungsbedürfnis wären erprobte Stichworte, klängen nach Aufrichtigkeit, und daß sie es nicht auch
Weitere Kostenlose Bücher