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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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daß man Blinddarmentzündung als Todesursache bei einer Patientin nennt, deren Blinddarm zehn Jahre zuvor entfernt worden ist; daß man eine Todesanzeige schickt, während die angeblich Tote noch körperlich gesund in der Anstalt lebt.)
    Verdächtiger als alles andere aber war, daß Charlotte, die, wie sie selbst gerne sagte, sonst aus ihrem Herzen keine Mördergrube machte, über den Tod von Tante Jette eisern und unnachgiebig schwieg.
    Für Bruchteile von Sekunden hatte Nelly auf dem Gesichtder Mutter einen ungewohnten Ausdruck von Bestürzung, Unglauben und Furcht gesehen.
    »Give me an answer and I want to hear«, singt Lenka.
    Tante Lucie aber bekam einen heftigen Migräneanfall, tagelang lag sie regungslos im abgedunkelten Zimmer, erbrach sich häufig, aß nicht und trank nicht. Als sie wieder aufstand und unter die Menschen ging, war ihr Gesicht dem ihrer toten Zwillingsschwester ähnlicher geworden.
    Es ist nicht zu entscheiden, was zuerst dasein muß: die Bereitschaft vieler, aus ihrem Herzen eine Mördergrube machen zu lassen, oder Mordkisten, die durch die Landschaft fahren und aus den Herzen Mördergruben machen. Nicht alle 60 000 Geisteskranken – unter denen sich auch »idiotische Kinder« befunden haben – sollen durch das Gas getötet worden sein. (»Nach der Ankunft solcher Wagen beobachteten die Hadamarer Bürger den aus dem Schlot aufsteigenden Rauch und sind von dem ständigen Gedanken an die armen Opfer erschüttert, zumal wenn sie je nach der Windrichtung durch die widerlichen Düfte belästigt werden«, schreibt der Bischof von Limburg im August 1941.) Nein: Auch später noch, als das Vergasungsprogramm abgebrochen war, gibt es Tötungen durch Veronal, Luminal, Morphium-Skopolamin.
    Die eigentlich originale Erfindung der mit der Durchführung des Führererlasses beauftragten Herren aber waren die Gaskammern, »Zimmer normaler Größe und Art im Anschluß an die übrigen Räume der Anstalt«. Sie wurden später zur weiteren Verwendung in den Osten geschickt, zum Beispiel in die polnische Stadt Lublin. Rudolf Höß, Kommandant von Auschwitz, weißnur ein Jahr später den Erfindern dieser Räumlichkeiten, besonders aber den Erprobern des Gases Dank: Dies alles, zur Sache, aber nicht zur Person gehörig, nochmals notiert für die Kinder der damaligen Kinder von Hadamar in Hessen, Hartheim bei Linz, Grafeneck in Württemberg, Brandenburg (Havel) und Sonnenstein bei Pirna.
    Der Gedanke, jedermann in Deutschland hätte das zwingende Bedürfnis haben müssen, seine Wohnung – Zimmer normaler Größe und Art – auszuräumen, einzureißen, von Grund auf zu verändern, damit sie nicht einer Gaskammer gliche: Dieser Gedanke ist gewiß wirklichkeitsfremd und wird Unwillen hervorrufen, denn eher machen wir aus unseren Herzen eine Mördergrube als eine Räuberhöhle aus unseren gemütlichen vier Wänden. Leichter scheint es, ein paar hundert, oder tausend, oder Millionen Menschen in Un- oder Untermenschen umzuwandeln als unsere Ansichten von Sauberkeit und Ordnung und Gemütlichkeit.
    Nelly war liederlich und unordentlich. Charlotte Jordan wußte manchmal nicht, wie sie es ihrer Tochter beibringen sollte, sich wie ein »normaler Mitteleuropäer« zu benehmen. Sich jeden Tag gründlich waschen. Jeden Abend die Schuhe putzen. Die Wäsche im Schrank auf Kante legen. Die Füße vor der Wohnungstür sorgfältig abputzen. Die Schulmappe abends packen. Ungegessene Schulbrote mittags auspacken und abends aufessen. Zähne morgens und abends putzen. Zerrissene Kleider sofort stopfen oder flicken. Morgen, morgen, nur nicht heute, sagen alle faulen Leute. Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen. Langes Fädchen, faules Mädchen. Was Hänschen nicht lernt, lerntHans nimmermehr. Ich verlange wirklichen und wahrhaftigen Gottes nur das allermindeste.
    Im Jungmädellager kontrollierten die Lagerleiterin oder die von ihr ernannten Stellvertreterinnen jeden Morgen den Schlafsaal, die Schränke und die Waschräume der Jungmädel. Einmal wurde die Haarbürste einer Schaftführerin öffentlich ausgestellt, weil sie voller langer Haare war. So dürfe die Haarbürste einer Jungmädelführerin nicht aussehen, sagte die Lagerleiterin beim Abendappell. Nelly versteckte ihre Haarbürste von Stund an im Seitenfach ihres Koffers, weil es ihr nicht gelang, sie von jedem einzelnen Haar zu befreien, und weil die Lagerleiterin nicht ausgerechnet bei ihr andere Saiten aufziehen sollte. Als sie selbst Kontrolldienst

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