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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Nelly noch verlieren müssen, bis ihr der Gedanke zu Herzen ging, ein Schriftsteller deutscher Sprache, Joseph Roth, sei, aus seiner österreichischen Heimat wegen seiner jüdischen Abstammung vertrieben, fünfundvierzigjährig in einem Pariser Armenhospital gestorben. Es wäre unrecht, das weißt du, Lenka mit der Trauer um jene vergeblichen Jahre zu belasten. Du schweigst. Aber immer unabweisbarer die Einsicht, daß vergeudete Zeit nicht wettzumachen ist.
    Mittags umrundet ihr zum erstenmal die Marienkirche. Sie steht freier als früher, die Häuser um den Markt wurden bei Kriegsende zerstört und sind durch neue Häuserzeilen ersetzt, die weiter von der Kirche abgerückt sind. Sie kommt nun besser zur Geltung. Du überprüfst dein Erinnerungsbild, findest es bestätigt. Du bist froh, daß H. und Lenka die Kirche bewundern, die, wie sich herausstellt, bis in ihr letztes Turmfenster in rein romanischem Stil gebaut ist. Wurdest du nicht hier konfirmiert? fragt Lutz. – Gewiß.
    Gegenüber dem Westeingang der Kirche ist das neue Restaurant am Markt. Lutz führt einen polnischen Sprachführer mit sich, der aber vor der fast unleserlich gedruckten Speisekarte versagt. Die Serviererin mit ihrem hoch auftoupierten schwarzen Haarhelm gibt sich Mühe, ihr gebt euch Mühe, am Ende heuchelt ihr Einverständnis mit Vorschlägen, deren Inhalt euch nicht aufgegangen ist.
    Es gibt eine gute kalte Sauermilchsuppe, gefüllten Rinderbraten und ein vorzügliches Rosineneis. Lutz hat gleich gesagt, daß man hier anständig ißt. Von euremPlatz aus seht ihr durch die großen Fenster auf den Bauzaun, der den ganzen Markt umgibt: Springbrunnen und Brunnenmarie und das alte Katzenkopfpflaster, auf dem an den Sonnabenden die Marktstände aufgeschlagen waren, und die uralten Kastanien, deren Kronen den Zaun natürlich weit überragen. Erinnert Lutz sich an die italienische Eiskonditorei am Markt? Lutz erinnert sich. Am liebsten aß er Zitroneneis, und es will dir unglaubhaft vorkommen, daß er sich an das Malaga-Eis nicht erinnern soll, das nur hier verabreicht wurde und sonst nirgendwo auf der Welt. Das Malaga-Eis, das Horst Binder – woher springt dir auf einmal dieser Name in den Kopf ? – eines Nachmittags der Akkordeonschülerin Nelly Jordan spendiert, nachdem er ihr, wie gewöhnlich, vor der Haustür ihrer mopsgesichtigen Akkordeonlehrerin in der Altstadt aufgelauert hat.
    Bei der Gelegenheit offenbart sich die schier unglaubliche Tatsache, daß Lutz mit dem Namen Horst Binder kaum eine Vorstellung verknüpfen kann. Er schmeckt den Namen mehrmals auf der Zunge: Binder, Binder ... Der muß doch in der Nähe von uns gewohnt haben? – Im mittleren der Bahrschen Häuser, parterre links. – Es ist nur, sagt Lutz, weil der nie rauskam, glaube ich. Oder hat der mal irgendwo mitgespielt, Völkerball oder Räuber und Gendarm oder Indianer? Das wüßte ich nämlich.
    Nein. Horst Binder kam nie raus. Horst Binder hat nicht mitgespielt. Er setzte seinen Fuß nur vor die Tür, um zur Schule oder zum Jungvolkdienst zu gehen und – beunruhigend genug – im Frühling 1943, um Nelly in einem Abstand von zehn bis zwanzig Metern zu ihrer Akkordeonstunde zu folgen, dienstagnachmittags umsechzehn Uhr. Zu dem mopsgesichtigen Fräulein Mieß, der es nicht gegeben war, ihrer Schülerin nennenswerte Leistungen auf dem Instrument abzuringen. Während Nelly im verstaubten Plüschkabinett der Musiklehrerin »Lustig ist das Zigeunerleben« spielen mußte, ein Lied, das trotz der Verfolgung der Zigeuner durch die Behörden nicht verboten war, schlich Horst Binder um den Eingang herum, und wenn sie, ihre Notenmappe unter dem Arm, endlich herauskam, vertrat er ihr den Weg und »glumerte« sie an.
    Erinnert Lutz sich wenigstens an diesen glumrigen Blick? Nein. Wenn er sehr scharf nachdenkt, erinnert er sich bestenfalls an eine Haartolle, an eine dunkle glatte Haarsträhne, die von einem schnurgerade gezogenen Scheitel über die Stirn bis beinahe ins linke Auge fiel. Ja? Erinnert er sich richtig?
    Ganz genau richtig. Horst Binder hat nämlich in beinah gotteslästerlicher Weise die Frisur des Führers nachgemacht. Alle Leuten grinsten hinter ihm her, wenn er, den Rücken leicht gekrümmt, mit seinem langen, etwas schleppenden Schritt die Soldiner Straße hinunterging und den Arm ernst und gemessen zum Deutschen Gruß erhob. Aber ins Gesicht gelacht hat ihm keiner. Wie ihn auch keiner je hat lachen sehen.
    Lenka will ja niemandem zu nahe treten, am wenigsten

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