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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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hatte, meldete sie drei Paar ungeputzter Schuhe und einen im Schrank ihrer Freundin Hella Teichmann verfaulenden Apfel. So tat sie ihre Pflicht, wie es sich gehörte, ohne Ansehen der Person. Auch Hella sah bis zum Abend ein, daß sie so und nicht anders handeln mußte. Beim Gutenachtsagen drückte die Lagerleiterin Nelly fest die Hand. Zwei Jungmädel spielten vom Flur aus auf Blockflöten das Gutenachtlied: »Kein schöner Land in dieser Zeit«. Am nächsten Morgen würde Nelly beim Fahnenappell den Flaggenspruch sagen, den sie sich vor dem Einschlafen ein dutzendmal wiederholte: »Ihr müßt die Tugenden heute üben, die Völker brauchen, wenn sie groß werden wollen. Ihr müßt treu sein, ihr müßt tapfer sein, und ihr müßt untereinander eine einzige große, herrliche Kameradschaft bilden.« Adolf Hitler. Die Lagerleiterin sagte, und Nelly hörte es gerne: Sie alle, künftige Führerinnen, würden zur Elite der Nation gehören.
    Selbstbezichtigungen und Entschuldigungsversuche halten einander die Waage.
    Statistiken – zum Beispiel die über Selbstmordraten – weisen aus, daß der Krieg eine beträchtliche Verbesserung der öffentlichen Gesundheit der Zivilisten mit sich brachte. Es mag sich um eine Art Gesundung durch Autosuggestion gehandelt haben, um einen Befehl an sich selbst, bloß jetzt nicht schlappzumachen, wo der einzelne sich sagen konnte, er werde gebraucht. Charlotte stellte ihre Klagen fast ein und »schmiß« den Laden, und da der Staat ihr offensichtlich mehr aufhalste als zumutbar, verlor er merkwürdigerweise von seiner Macht. Dem Polizisten, der an einem Winterabend kurz nach sieben ihr Geschäft betrat, um sie an die Ladenschlußzeiten zu erinnern – ein Relikt aus der Epoche der sogenannten freien Konkurrenz –, warf sie mit großer Geste ihr umfangreiches Schlüsselbund vor die Füße: Hier, solle er selber abschließen. Solle er doch gleich ihren Laden übernehmen, gerne, liebend gerne sogar! Solle er sie doch anzeigen. Solle er doch ihren Laden zumachen und sich nach einem anderen Geschäftsführer umsehen. Sie, Charlotte Jordan, würde sich zu gerne mal auf ihre eigenen vier Buchstaben ausruhn und von ihrer Rente als Kriegerfrau leben ...
    Nelly sah den Polizisten sich unter beschwichtigenden Gesten zur Ladentür zurückziehen, und sie sah, als er gegangen war, den Triumph in ihrer Mutter Gesicht.
    Warum stört es dich immer mehr, daß all diese Leute dir ausgeliefert sind? Nimm Charlotte. Sie kann keinen Einspruch erheben, nichts klar- oder richtigstellen, das Wort »Triumph« nicht verbessern, falls sie es unzutreffend fände. Du kannst über sie erzählen, was dir einfälltund was du willst. Kannst Meinungen kundtun, die durch Verbreitung nicht richtiger werden müssen. Kannst an einem ihrer letzten Sätze herumrätseln, den Charlotte sagte, ehe sich ihr Bewußtsein trübte und nachdem sie die in ihrem Todesjahr – 1968 – sehr aufgeregten Radionachrichten endgültig abgeschaltet hatte: Es gibt Wichtigeres.
    Spott. Ja: Spott war es, was Nelly in Charlottes Gesicht sah, als sie den Polizisten in die Flucht geschlagen hatte. Nur weil Charlotte selten spöttisch aussah, konnte Nelly sich diesen Ausdruck merken. Lenka ist an Spott gewöhnt, sie weiß sich zu wehren. Sie muß ihrem Vater Bescheid geben, der den Wagen jetzt in die pralle Sonne auf dem Marktplatz von G. lenkt, der ihr den Wutausbruch gegen den unhöflichen Fahrer des Westwagens nicht durchgehen läßt, sich selbst anbietet, sein Kreuz hinhält, damit sie ihre Aggressionen daran auslasse; der »Aggressiönchen« sagt und dafür mit Faustschlägen traktiert wird. Schuft, Hund, Verräter, die familienübliche Steigerung von Schimpfwörtern, Lutz bietet »stinkender Kojote« an und wird zurückgewiesen. Woher soll Lenka Karl May kennen?
    Am späten Nachmittag, als ihr im Hotel die Koffer öffnet, zeigt sich, daß Lenka ein Buch mitgenommen hat, obwohl sie wußte, daß sie kaum lesen würde. Sie verreist nie ohne Buch. Sie liest dann keine Zeile, denn ihr redet bis in die Nacht hinein; aber auf ihrem Nachttisch liegt »Hiob« von Joseph Roth, und nachträglich fällt dir ein, beide, Buch und Autor, hätten in euer Gespräch gepaßt. Als Nelly vierzehn Jahre alt war, war dieser Autor schon vier Jahre lang tot, aber sie kannte nicht einmal seinen Namen oder gar seine Geschichte von diesemJuden Mendel Singer, über die Lenka weint, sooft sie sie liest. Wie viele endlose Jahre, von ihrem vierzehnten Jahr an gerechnet, hat

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