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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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träfen, soll ja nicht behauptet werden. Doch treffen sie es eben nicht ganz. Und gerade der Rest, der nicht durch Ehrgeiz, nicht durch Geltungsbedürfnis gedeckt wird, interessiert. (Schön wäre es, du wüßtest, ob es im Leben des Kindes einen Augenblick gab, da es zum erstenmal aus eigenem Antrieb vor die anderen trat und Lust verspürte, als die sich seinen Befehlen unterwerfen mußten. Schön – im ästhetischen, nicht im moralischen Sinne schön wäre es, ein entsprechendes Bild, oder eine Reihe von Bildern, hier einfügen zu können. Nichts dergleichen. Du siehst nichts.)
    Das dritte Stichwort wäre: Kompensation (»Ausgleich«, »Erstattung«, »Vergütung«). Dazu lassen die Bilder nicht auf sich warten. Nelly ließ sich auf ein Kompensationsgeschäft ein, und man möchte fast annehmen, sie wußte es, denn sie weinte, als sie sich von der Mutter die Erlaubnis dazu ertrotzte: Anerkennung und verhältnismäßige Sicherheit vor Angst und übermächtigem Schuldbewußtsein werden ihr garantiert, dafür liefert sie Unterwerfung und strenge Pflichterfüllung. Sie hat erlebt, daß sie den Zweifeln nicht gewachsen ist. Sie nimmt sich jede Möglichkeit zu zweifeln, vor allem ansich selbst. (»Das Schwache muß weggehämmert werden.« Adolf Hitler.) Den Preis muß die Ware ihr wert gewesen sein: Kein Wort davon, auch im Innern nicht. Nur die unerklärlichen Tränen und Charlottes erschrockene Blicke, die hastig gegebene Erlaubnis. Daß dir soviel daran liegt!
    Ungefähr um jene Zeit hat Nelly einmal wieder ihre Tante Lucie am Hindenburgplatz besucht – was sie übrigens gerne tat, denn Tante Lucie war lustig, manchmal, wie gesagt, ein wenig »frei«, und sie konnte Wörter wie »Konfirmandenäpfel« für den dürftigen Brustansatz sehr junger Mädchen in Gegenwart der Kinder benutzen. Nelly hat bei Tante Lucie mit Astrid gespielt. Astrid, die Gleichaltrige, die sie, nicht ganz korrekt, ihre Cousine nannte, die anscheinend keinen Vater hatte und deren Mutter man nicht zu Gesicht bekam. Von dieser Mutter hatte Nelly aber flüstern hören, sie sei eine »unglückliche« Zwillingsschwester der glücklichen Tante Lucie. Astrid, die Nelly anzog und abstieß, weil sie immer auf Spiele oder Handlungen drang, denen ein Hauch von Unanständigkeit anhing. Gemeinsam auf die Toilette gehen und sich dort gegenseitig betrachten zum Beispiel. Oder in der Dämmerung, wenn unten um den Hindenburgplatz herum die Laternen angezündet wurden und die Liebespaare sich im Schatten der Bäume aneinanderdrückten, vom Balkon herunter laut »Pfui!« zu rufen.
    An jenem Abend aber saß am Abendbrottisch eine fremde Frau Nelly gegenüber und sah sie unverwandt, sogar bohrend an. Diese Frau hatte Tante Lucies Gesicht, aber jemand hatte dieses Gesicht zum Einsturz gebracht. Das war Tante Jette, Astrids Mutter, TanteLucies Zwillingsschwester, die »auf Urlaub« hier war. Nelly kannte nur Soldaten auf Urlaub, und es brauchte eine Zeit, ehe sich aus der Verwirrung in ihrem Kopf das Wort »Anstalt« herauslöste: Tante Jette war auf Urlaub von der Anstalt. (Es handelte sich um die Brandenburgischen Heil- und Pflegeanstalten an der Friedeberger Chaussee, deren Gebäude ihr am Sonntag, dem 11. Juli 1971, als ihr ein Stück in Richtung des ehemaligen Ortes Friedeberg fuhrt, linker Hand habt liegen sehen.)
    Tante Jette hatte einen Verlangsamer in sich. Oder sie lebte in einer anderen, zäheren Luft, die ihr keine schnellen Bewegungen gestattete. Nelly wurde an Zeitlupenaufnahmen erinnert. Sie fragte sich, ob Tante Jette es fertigbrächte, unendlich langsam vom Pferd zu fallen, ohne sich dabei zu verletzen, und auf diese Weise vielleicht Nutzen aus ihrer eigentümlichen Beschaffenheit zu ziehen.
    (Seit ein paar Tagen, seit Lenka Tag und Nacht eine dunkle Melodie singt, steht jene Tante Jette, die eigentlich »Johanna« hieß, wie du später erfuhrst, und sich den herabsetzenden Namen Jette in der Kindheit schon durch auffällige Ungeschicklichkeit zugezogen hatte, dir wieder deutlicher vor Augen. Lenka singt: »Sometimes it seems to me things move too slowly, is there no answer or I cannot hear? Sometimes it seems to me things move too slowly, nothing is near ...«)
    Nelly fuhr zusammen, als Tante Jette ihr Schweigen brach und mit brüchiger Stimme sie, gerade sie anredete: Ob sie ihr ein Brot bestreichen dürfe. Nelly nickte, ehe der Protest der anderen laut werden konnte. Wie die Dinge lagen, hatte sie längere Zeit auf ihr Brot zu warten, so daß nicht

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