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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Anwesenden, aber sie möchte doch mal sagen, daß ein Jüngling wie dieser nicht das vorteilhafteste Licht auf das Mädchen wirft, das er mit seiner Anhänglichkeit belästigt. Oder? Habe ich nicht recht in der Annahme, man müßte ihn sich schnellstens vom Halse schaffen?
    Achgottachgott. Was heißt hier vom Halse schaffen.Du willst ja nicht behaupten, daß Nelly gerade beglückt war, wenn Horst Binder ihr in den Weg trat und sie mit seinen braunen Hundeaugen stumm und dringlich anglumerte: Der Junge, sagt Charlotte, die nicht alles wußte, ist einfach meschugge. Sie wäre imstande gewesen, den Nachstellungen ihrer Tochter durch ein kurzes, eindeutiges Gespräch mit ihrer Kundin Frau Binder ein Ende zu setzen, hätte sie ihr Ausmaß gekannt. Wenn auch die Rede ging, Horst Binder ließe sich von seiner Mutter nichts sagen, einer unscheinbaren, allem Anschein nach unglücklichen Frau, und selbst sein Vater, der Reichsbahnsekretär Eberhard Binder, verliere allmählich jeden Einfluß auf ihn. – So wäre Nelly ein abruptes Ende dieser unheimlichen Beziehung (denn unheimlich, das war sie, weiß Gott!) auch wieder nicht recht gewesen? Die Antwort muß lauten: Nein. Nicht unbedingt.
    Ja aber warum denn nicht!
    Wer das erzählen könnte. Nicht, daß Nelly blind war. Nicht, daß sie außerstande gewesen wäre, ihren aufdringlichen Begleiter lächerlich und lästig zu finden. Doch schmeichelte seine klebrige Anhänglichkeit ihr ja auch, und sein düster glimmendes Auge hinter der dunklen Haarsträhne schien auf ungewöhnliche Verstrickungen hinzudeuten, und es war doch ein zwar verwerflicher, aber entsetzlich verführerischer Kitzel, einen Menschen, der so viele an der Strippe hatte (so drückte Charlotte sich aus: Der hat sie doch alle an der Strippe!), nun selbst an der Leine zu führen.
    So was geht nie gut, sagte Lenka ganz richtig, und sie verbittet sich euer Grinsen. Sie wisse nämlich, was sie sage.
    Wenn du ahntest, wie genau ich dich kenn! So sprach Charlotte Jordan zu ihrer Tochter, als die erwachsen war und sich nicht den Kopf darüber zerbrach, ob sie von ihrer Mutter gekannt wurde oder nicht; die vierzehnjährige Nelly jedenfalls hatte sich davor zu hüten. Sie leugnete, daß Horst Binder sie jemals nach der Akkordeonstunde belästigte. Hat er dich denn wieder belästigt? Das ist doch einfach unglaublich. Laß dich bloß nicht mit diesem dummen Bengel ein, Kind.
    Nelly übte jetzt kurze Zeit lang heftig die Stücke für Fräulein Mieß und brachte es zu einer gewissen Virtuosität im »Zigeunerleben« und besonders in »Es hatt’ ein Bauer ein schönes Weib«. Fräulein Mieß öffnete das Fensterchen ihrer Mansarde, um den Frühling hereinzulassen, und sang, beflügelt von den unverhofften Fortschritten ihrer Schülerin, mit ihrer Piepsstimme den verfänglichen Text mit: »Er sollte doch fahren ins ha-ha-ha, ha-ha-ha, Heu, juchhei, ins Heu, juchhei, er sollte doch fahren ins Heu.« Nelly spielte, was das Zeug hielt, und bediente die Bässe, als müßte es so sein. Ob Horst Binder jenseits der Straße im Torweg stand und das Fenster mit der weißen Scheibengardine und den beiden Fleißigen-Lieschen-Töpfen im Auge behielt? Ob er ihr schmissiges Spiel hörte und den lächerlichen Gesang von Fräulein Mieß? Ob er irgend etwas in der Welt lächerlich finden konnte? Ob er jemals lachte?
    Lachte der Führer denn?
    Mit Horst Binder konnte man nur über den Führer sprechen. Er lebte Nelly ein Leben im Dienste des Führers vor, und sie müßte sich in ein Mauseloch verkriechen, wenn sie sich mit ihm vergleichen wollte. Horst Binder glaubte – nein, eben das war das faszinierend Unheimliche:Er wußte, daß der Führer Tag und Nacht an Deutschland dachte und daß er Menschen wie ihn, Horst Binder, brauchte wie die Luft zum Atmen, damit sie das Gefäß seiner Gedanken seien. Horst Binder sprach, und Nelly hörte zu. Sie mußte sich fragen, ob sie ein »Gefäß« sein könnte. Vor ihr tauchte das Bild einer altgermanischen Schnurkeramikvase auf, denn natürlich mußte es sich um ein würdiges Gefäß handeln; etwas aus der neuzeitlichen Massenproduktion kam nicht in Frage.
    Sie fragte Horst Binder schüchtern, ob sie vielleicht über den Markt gehen könnten. Er zog flüchtig erstaunt die Augenbrauen hoch und bog wortlos in die Richtstraße ein. Es war ihm egal, wo man ging, wenn er nur über den Tagesablauf des Führers sprechen konnte, den er sich aus hundert einzelnen Informationen lückenlos zusammengesetzt hatte.

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