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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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nur ihre, sondern auch die Aufmerksamkeitder anderen nachließ. Als Tante Jette ihr die sorgfältig zurechtgemachte Schnitte über den Tisch zureichte, stellte sich heraus, daß sie Schmalz und Butter übereinandergestrichen hatte: Zwei Schichten, die man an der Bißfläche deutlich ausmachen konnte. Ein Tumult brach aus. Jeder, am lautesten Astrid, Tante Jettes Tochter, beschimpfte Jette; da sehe man wieder, daß es keinen Zweck habe, sie könne sich einfach nicht zusammennehmen. Tante Jette machte konfuse Abwehrbewegungen. Man wollte Nelly das Brot gewaltsam vom Teller reißen. Natürlich mußte sie nicht essen, was die Verrückte ihr da gemacht hatte. Tante Jette sah Nelly an. Nelly hielt das Brot fest, sie tat einen großen Biß, sie kaute und sagte, es schmecke ihr aber. Sie steigerte sich dann: Schmalzbutterbrote gehörten überhaupt zu ihren Lieblingsspeisen.
    In der Stille, die sich ausbreitete, aß sie ganz allein und mußte aufpassen, daß sie nicht schmatzte und daß sie nicht aufsah, um wiederum dem Blick der Verrückten zu begegnen. Sie sah auf. Sie begegnete Tante Jettes Blick. Dann schlug sie die Augen nieder und fühlte sich rot werden. War es denkbar, daß Verrückte Dankbarkeit in ihren Blick legen können?
    Sie mußte sich irren. Es war bezeichnend für sie, daß sie es fertigbrachte, sich vor einer Irren zu schämen. Der Begriff »lebensunwertes Leben« war ihr geläufig, wie er jedermann geläufig war, man lernte ihn in der Schule, man las ihn in der Zeitung. In Nellys Biologiebuch erzeugten gewisse Bilder ein Grauen vor jenen Menschen (wie vor den Angehörigen der ostischen oder gar der semitischen Rasse), und Fräulein Blümel, ihre blonde Biologielehrerin mit dem großen, weichlichen,grellrot geschminkten Mund (sie kam aus Berlin!) und der großporigen Haut zog Vergleiche zwischen dem Leben der Vögel, Säugetiere, Fische und Pflanzen – wo die überaus weise Natur dafür sorgte, daß das Schwache ausgemerzt wurde, um nicht die Art zu mindern – und dem Leben der Menschen, die, zu falscher Humanität verweichlicht, ihr ehemals reines, gesundes Blut durch minderwertige und kranke Beimischungen verdarben: Man denke an die Vernegerung der Franzosen, an die Verjudung der Amerikaner.
    Dem Euthanasieprogramm, das vom Februar 1940 – dies war die Zeit, da Nelly Tante Jette begegnete – bis zum Herbst 1941 durchgeführt wurde, fielen 60 000 Menschen zum Opfer. Nelly kannte den Namen nicht, natürlich auch nicht die Namen der drei Tarnorganisationen, die mit der reibungslosen Abwicklung des vom Führer befohlenen, aber »aus politischen Gründen« nicht zum Gesetz erhobenen Programms beauftragt wurden: die »Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten«, der die Ermittlung der Kranken oblag, zu welchem Zweck sie Fragebogen versendete und dann auswertete; die »Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege«, der die finanzielle Sicherung des Unternehmens anvertraut war: Der Apparat zur Ermittlung, zum Transport der Geisteskranken kostete Geld; an Ärzte und anderes medizinisches Personal waren Gehälter zu zahlen, die Industrie lieferte das Monoxydgas auch nicht umsonst. Schließlich: die »Gemeinnützige Krankentransportgesellschaft m. b. H«, die sich um die »Verlegung« der Opfer bemühte und hinter deren mit Tüchern zugehängten Omnibussen die Kinder zum Beispiel von Hadamar in Hessen – ein Ort, in dessen Näheeine »Heilanstalt« mit einer Vorrichtung zur Vergasung von Kranken lag – herriefen: Da werden wieder welche vergast!
    Was Nelly wußte oder spürte – denn in Zeiten wie diesen gibt es viele Stufen zwischen Wissen und Nichtwissen: Mit Tante Jettes Tod stimmte etwas nicht.
    Daß Tante Lucie weinte, war normal. Tante Lucie, patent in allen Dingen, half ihrer Schwägerin Charlotte seit der Einberufung von Bruno Jordan im Geschäft; daß sie im Flüsterton mit der Mutter vom Tod ihrer Zwillingsschwester sprach, blieb merkwürdig. Dabei hatte die Familie durch die Heilanstalt Brandenburg (Havel) eine ordnungsgemäße Benachrichtigung bekommen – jene Anstalt, in die ihre Tochter im Juli 1940 »im Rahmen von Maßnahmen des Reichsverteidigungskommissars« verlegt worden war und wo sie plötzlich und unerwartet an einer Lungenentzündung verstarb.
    (Es passierte den Behörden keiner jener haarsträubenden Fehler, über die sich der Kreisleiter von Ansbach schriftlich beschweren muß: daß man der Familie gleich zwei Urnen mit der Asche der – oder des – Verstorbenen zuschickt;

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