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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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an dem Nelly nachmittags oft und oft gestanden hat, einmal weinend, weil ihre Mutter ihr den Besuch des Films »Der große König« mit Otto Gebühr verweigert hatte: Dies alles zusammen gab den Grund, auf dem die Farben jenes um so viele Jahre späteren Nachmittags frei und – fast hättest du jetzt gesagt: kühn – hervortreten konnten.
    Lenka, mit dem untrüglichen Sinn aller Kinder für die Stimmungen der Eltern, lag mit ihrem Kopf dicht an deiner Schulter auf ihrem alten Anorak, sie schlief sofort. Du konntest noch mit ansehen, wie zwei Kinder, Junge und Mädchen, Hand in Hand die hohen Stufen der neuen Schwimmbadtreppe hinaufkletterten und dabeiihre Schritte zählten, auf polnisch. Du zähltest mit, auf deutsch, bis zu einer nicht mehr erinnerlichen Zahl. Dann kamen dir auf einmal – eine gewisse Zeit mochte immerhin vergangen sein – in einem ungewissen Wetter auf einer unbekannten grauen Straße drei Menschen entgegen, die, wie du scharf empfandest, überhaupt nicht zusammengehörten: Vera Przybilla und Walpurga Dorting, zwei Mädchen aus deiner ehemaligen Klasse, mit denen du nie befreundet warst, und zwischen ihnen dein alter Freund Jossel. Sie kamen, in ein ruhiges Gespräch vertieft, auf dich zu, sahen dich wohl, schienen aber keine Lust zu haben, dir zu erklären, wie und warum ausgerechnet sie, die sich doch niemals kennen konnten, hier zusammenkamen.
    Der Milizionär weckte euch mit leisem Anruf. Durch höfliche, aber bestimmte Gesten machte er euch mit dem Verbot bekannt, sich auf dem Uferwall zu lagern. Ihr, ebenfalls gestisch, gabt zu verstehen, daß ihr die Verbotstafel – die ihr freilich nicht hättet lesen, wohl aber begreifen können – nicht gesehen hattet und daß ihr bereit wart, durch eiligen Aufbruch die Konsequenzen zu ziehen. Das Angebot wurde akzeptiert, der Aufbruch abgewartet. Ein paar Passanten und Bewohner umliegender Häuser sahen dem Vorgang zu, ohne Schadenfreude, mit sachlichem Interesse. Die beiden Kinder – Junge und Mädchen – kletterten immer noch oder schon wieder die Treppe hoch. Eine knappe halbe Stunde Zeit war vergangen. Der Milizionär grüßte und warf sein Beiwagenmotorrad an. Bye-bye, sagte Lenka. Lieb von dir, daß du nicht früher gekommen bist.
    Was jetzt? – Schule, sagtest du. Böhmstraße. – Findest du hin? – Im Schlaf.
    Im Schlaf hatten also diese beiden – Vera und Walpurga, Freundinnen seit Walpurgas verspätetem Eintritt in Nellys Klasse – Jossel angezogen, den sie im Leben nicht kennen konnten. Was hatte nun wieder das zu bedeuten? Zu schweigen von anderen Ungereimtheiten: daß die beiden Mädchen das Aussehen von Sechzehnjährigen behalten hatten – Vera ihren Mozartzopf, Walpurga ihr langes offenes Haar –, Jossel aber in seinem heutigen Alter erschien. Und diese Vertrautheit der drei, die doch den wahren Sachverhalt verzerrte, weil ja Jossel seit Jahren dein Freund ist und die beiden anderen – Gott weiß, wo sie sein mögen! – Nelly nie nahestanden und nicht einmal wissen, daß es ihn gibt. Wäre er euch allerdings damals begegnet, als ihr Mädchen sechzehn Jahre alt wart – darin hatte der Traum nun wieder recht –, damals, als Jossel jung war, nicht diesen Bart hatte und nicht diesen Ausdruck in den Augen, für den man nicht leicht ein Wort findet: »verloren« kommt ihm am nächsten; damals, als sie ihn, den Wiener Juden, in Frankreich geschnappt und nach Buchenwald transportiert hatten: Wäre er damals in diese Stadt gekommen – was allerdings undenkbar war –, dann hätte er eher noch mit Vera Przybilla, der Baptistin, und mit ihrer Freundin Walpurga, der Tochter eines christlichen Missionars (die Jahre ihre Lebens in Korea verbracht hatte und ein zwar fließendes, aber niemandem, auch der Englischlehrerin nicht verständliches Englisch sprach), irgendeine Straße entlanggehen können als mit Nelly.
    Falls es die Absicht des Traumes gewesen war, auf diese bestürzende Tatsache hinzuweisen, hätte er seinen Zweck erfüllt.
    Die Wächter vor den Toren des Bewußtseins abziehen.
    Gerade jetzt, da Aufrichtigkeit sich lohnen würde, was ja nicht immer, vielleicht nicht einmal häufig der Fall ist, stößt du auf eine neue Art Erinnerungsverlust, nicht gleichzusetzen mit den Gedächtnislücken, welche die frühe Kindheit betreffen und die sich von selbst zu verstehen scheinen, jene verschwommenen oder weißen Flecken auf einer merkwürdigen, besonnten Landschaft, über die das Bewußtsein dahintreibt wie ein Fesselballon im

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